Nelly Grotefendt und Jürgen Maier
Forum Umwelt und Entwicklung
Januar 2018
Der Text ist als PDF verfügbar.
Die 11. Ministerkonferenz (MC11) der Welthandelsorganisation (WTO), ist im Dezember 2017 ohne konkrete Ergebnisse zu Ende gegangen. Anstatt einer gemeinsamen Abschlusserklärung kam es lediglich zu einer Erklärung der Vorsitzenden und zu verschiedenen gemeinsamen Erklärungen von WTO-Mitgliedern zu Themen wie elektronischem Handel oder Investitionen. Sowohl viele Mitgliedstaaten, als auch die internationale Zivilgesellschaft hatten deutlich mehr Ergebnisse erwartet. Zwar sind die Verhandlungen zu den Themen der Doha-Runde (Themen aus der 4. Ministerkonferenz in Doha) nun mehr als 10 Jahre festgefahren, aber es wurde dennoch auf Fortschritte bei diversen Blockaden im Bereich der Ernährungssicherung, konkret der öffentlichen Lagerhaltung und Fischereisubventionen gesetzt. Nichts dergleichen wurde erreicht. Andererseits hat sich an den Interessengegensätzen nichts geändert, und so zeigt sich erneut: Die Agenda der internationalen Handelspolitik, insbesondere der großen Player wie der EU ist verfahren und zudem in einer massiven Legitimationskrise. Es geht kaum voran – egal ob multilateral, bilateral oder plurilateral. Und das ist auch gut so; denn es sind nach wie vor die falschen Inhalte, die von allen großen Akteuren, auch der EU, vorangetrieben werden sollen. Handel ist kein Selbstzweck, sondern muss endlich anfangen mehr Gewinner als Verlierer hervorzubringen.
Die WTO-Mitglieder haben ihre 11. Ministerkonferenz am 13. Dezember in Buenos Aires mit äußerst dürftigen Ergebnissen beendet. Man hat sich ein weiteres Mal dazu verpflichtet, eine Vereinbarung über den Abbau von Fischerei-Subventionen abzuschließen, um damit bis Ende 2019 das Ziel für nachhaltige Entwicklung (SDG) 14.6 zu erfüllen. Damit haben die Mitglieder sozusagen einfach nur den Arbeitsauftrag aus Nairobi (10. Ministerkonferenz 2015) auf die 12. Ministerkonferenz vertagt. Das Moratorium auf Zölle für E-Commerce wurde erneut um zwei Jahre verlängert und man verpflichtete sich, die Verhandlungen in allen Bereichen fortzusetzen. Zudem haben viele – aber nicht alle Minister vier gemeinsame Erklärungen zu einem informellen Arbeitsprogramm für Kleinst-, kleine und mittlere Unternehmen, Investitionserleichterung, E-Commerce und innerstaatliche Regulierung verabschiedet. Die USA unterzeichneten nur die E-Commerce-Erklärung, nicht aber die anderen drei. Die EU zeichnete alle vier.
Es ist nicht das erste Mal, dass eine WTO-Ministerkonferenz ergebnislos endete. 1999 ging die MC3 in Seattle buchstäblich in Flammen auf, die 5. MC in Cancún 2003 wurde frühzeitig abgebrochen. War das Scheitern also vorhersehbar? Vielleicht. Aber irgendwie ist die Konferenz trotz allem geäußerten Bedauerns ja auch nicht gescheitert, denn sie hält jetzt wunderbar als Argumentationsgrundlage für die eigentlichen Projekte der großen Player her, die sie primär außerhalb der WTO verfolgen. War alles nur Show?
Die USA hatten beispielsweise schon im Vorfeld der Konferenz durchblicken lassen, dass man gar nicht an Ergebnissen interessiert sei. Der amtierende US-Präsident Donald Trump hatte in den vergangenen Monaten wiederholt die WTO (und ihren Streitschlichtungsmechanismus) beschuldigt, voreingenommen gegen die USA zu agieren. Es solle keine neuen Vereinbarungen geben, sofern die alten nicht befolgt würden, außerdem müsse eine Vorzugsbehandlung für Entwicklungsländer generell ausgeschlossen werden, so die amerikanische Position. Vielen mag diese Verweigerungshaltung der USA bekannt vorkommen, gab es doch schon ähnliche Tendenzen, beispielsweise bei der gemeinsamen Erklärung der Finanzminister im Rahmen des G20 Treffen im vergangenen Jahr. Für die Abschlusserklärung konnte nur mit Ach und Krach ein Hinweis auf offene Märkte und Handel verabschiedet werden. Wenn also eine zentrale Führungsmacht eines internationalen Forums wie der WTO sich weigert etwas Substanzielles in den Prozess einzubringen, ist es vorherzusehen, dass andere Akteure wie beispielsweise Indien auch auf stur schalten. Doch was heißt das für die WTO und für die internationale Handelspolitik?
Die US-Position als Taktik – fehlende Führung oder Kalkül?
Die amerikanische Blockadehaltung war also schon im Vorfeld der MC11 klar und somit wurde vor, um und nach der MC11 die mangelnde Führung der USA beklagt. Im Lichte dessen ist die vorgeführte Enttäuschung einiger Minister, darunter auch des US-Handelsbeauftragten Robert Lighthizer, nicht sehr glaubwürdig, fügt sich aber wunderbar gemeinsam mit der Blockadehaltung zu einem Ausblick, der u.a. auch von der EU geteilt wird. So resümierte Lighthizer zur MC11, dass Verhandlungen zwischen kleineren Gruppen von “gleichgesinnten” WTO-Ländern ein besserer Ansatz seien, als sich mit allen Mitgliedern zu einem Kompromiss zu unterhalten. Zudem verließ er Buenos Aires bereits einen Tag vor Ende der WTO-Konferenz und twitterte nach ihrem Scheitern: „Glückwünsche an WTO-Generaldirektor Roberto Azevedo und an die Konferenzvorsitzende Susana Malcorra zu einer erfolgreichen Ministerkonferenz. Damit steht die neue Richtung der WTO fest: Handel verbessern durch sektorale Abkommen zwischen gleichgesinnten Staaten.“ Auch die EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström sagte nach Abschluss der MC11, dass „kurzfristige plurilaterale Vereinbarungen innerhalb des WTO-Rahmens“ der beste Weg nach vorne seien. Auf also in Richtung plurilateraler Abkommen „Gleichgesinnter“, der Rest der Welt kann sehen wo er bleibt?
Der angesprochene Generaldirektor Roberto Azevêdo sah das Ganze vielleicht etwas nüchterner bei der Abschlussveranstaltung der MC11: „Fortschritte würden eine Veränderung in den Positionen der Mitglieder erfordern. Das haben wir nicht gesehen. Wir müssen wirklich in uns gehen.” Doch auch er spielt seine Rolle darin, die von den Industrieländern gewünschten „neuen Themen“ in der WTO zu eigenen Foren zu verhelfen, damit sie nicht außerhalb verhandelt werden. Eine große Zahl von Entwicklungsländern will aber nach wie vor diese „neuen Themen“ wie elektronischen Handel und Investitionserleichterungen nirgendwo verhandeln, weil sie nicht in ihrem Interesse sind, sondern stattdessen endlich die alte Doha-Entwicklungsagenda, auch genannt Doha-Runde, von 2001 angehen. Sehr realistisch ist aber auch dies nicht: Die Welt von 2018 sieht einfach anders aus und eine Agenda von 2001 ist heute nicht mehr sonderlich zielführend – selbst wenn sie nicht sowieso blockiert wäre. Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass praktisch alle Mitgliedsregierungen der WTO eine Agenda verfolgen, die irgendwie aus der Zeit gefallen wirkt: die EU und andere Industrieländer setzen unbeirrt auf immer noch mehr neoliberale Deregulierung und weitere Marktöffnung, obwohl diese Agenda heute außerhalb der politischen Klasse nirgendwo mehr mehrheitsfähig ist – und die meisten Entwicklungsländer auf knapp 17 Jahre alte Texte, weil ihnen offenbar nichts Sinnvolleres einfällt. Unterm Strich kann von einem Scheitern der MC11 oder gar der WTO keine Rede sein. Malmström mag zwar beklagen, dass sie sich mehr erhofft hatte, sie hat aber bekommen was sie wollte. Dabei ist es wichtig im Auge zu behalten, dass trotz der großen Reden und gezeigten Enttäuschungen gemeinsame Erklärungen verabschiedet wurden: Neue Themen werden also gesetzt, langsam aber endgültig; zudem werden plurilaterale Verhandlungen – also ein Zusammenschluss der Willigen, positiv aufgewertet.
Die Doha-Agenda ist Geschichte
Hinzu kommt: Auch in dieser Blockadesituation sind die Verlierer unterm Strich die Entwicklungsländer. Einige unter ihnen halten aus Mangel an Alternativen fast schon verzweifelt an der Doha-Entwicklungsagenda als einzige Grundlage fest. Die gemeinsamen Erklärungen der MC11 zeigen aber, dass sie auch durch Blockade innerhalb der WTO die Strategie der EU und der USA nicht durchkreuzen können, die „neuen Themen“ außerhalb der WTO voranzutreiben. Eine strategische Antwort darauf haben sie nicht, schon gar keine gemeinsame. Die Agenda von Doha enthält Themen, die für Entwicklungsländer von Bedeutung sind. Aber sie ist ein unordentliches Flickwerk unerledigter Geschäfte, die aus den 1994 geschlossenen Abkommen der Uruguay-Runde übernommen wurden. Diese Agenda geht auf die 1980er Jahre zurück und auf eine in Nord und Süd verbreitete naive Begeisterung für Handelsliberalisierung als Entwicklungsmotor, die längst überholt ist. Diese Zielsetzung bietet keine Antwort auf die drängenden Fragen unserer Zeit zu Ungleichheit, Gerechtigkeit, ökologischer Nachhaltigkeit und Frieden. Wer hat denn in einem Land wie Bangladesch etwas davon, dass es freien Marktzugang für Textilien in Europa gibt, die unter unerträglichen Bedingungen hergestellt wurden? Wer hat in einem Land wie Brasilien etwas davon, dass das Land zu einem Mega-Agrarexporteur geworden ist? Wollen wir wirklich noch bessere Marktzugangsmöglichkeiten für diese Art von Exporten? Die handelspolitische Agenda der meisten Entwicklungsländer ist eine Agenda der herrschenden Eliten und unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von der handelspolitischen Agenda der Industrieländer.
Man kann also getrost die Rhetorik um die „Enttäuschung über die nicht vorhandenen Ergebnisse“ der WTO beiseitelegen. Auf der Tagesordnung der öffentlichen Debatte weltweit steht längst eine Bestandsaufnahme der bisherigen Art von Globalisierung und den Verwerfungen, die sie verursacht. Beim „Weltwirtschaftsforum“ in Davos 2017 beherrschte nach der Wahl Trumps genau dies die Diskussionen, die versammelte Weltelite sah die Globalisierung im Krisenmodus und die Notwendigkeit, nicht nur den „Kampf gegen den Protektionismus“ rhetorisch zu beschwören , sondern auch real mehr Menschen an den „Früchten der Globalisierung“ teilhaben zu lassen. Mittlerweile scheint der Trump-Brexit-Schock nachzulassen, „business as usual“ steht wieder hoch im Kurs. In der WTO bleibt es dabei, dass die EU und andere Industrieländer Schwellen- und Entwicklungsländer daran hindern wollen, Handels- und Investitionspolitik für ihre eigene Entwicklung zu nutzen. Solche Politiken umfassen selektive statt völlige Marktöffnung, staatliche Subventionen und andere Formen der Industriepolitik, Staatseigentum und Bedingungen für eingehende ausländische Investitionen wie Technologietransfers und die Verwendung lokaler Inputs. Dieser Ansatz hat sich seit der Uruguay-Runde, oder auch früherer Handelsrunden im Rahmen des GATT (General Agreement on Tariffs and Trade), nicht geändert, wo sich die EU und die USA routinemäßig durchsetzten, da die meisten Entwicklungsländer keine Mitglieder waren oder ihre Allianzen sich als nicht stark genug erwiesen.
Es wäre ein Fehler, die WTO jetzt als unbedeutend abzuschreiben. Sie ist eine Organisation, die über knapp ein Dutzend bestehender globaler Handelsverträge wacht, in der der weitaus größte Teil der Welt Mitglied ist. Diese Verträge gelten unbefristet und haben (noch) wirksame Durchsetzungsmechanismen. Und sie gelten selbstverständlich auch dann, wenn in absehbarer Zeit keine weiteren solchen Verträge geschlossen werden. Wenn die US-Regierung allerdings ihre Ankündigung wahrmacht, durch eine Blockade der Neubesetzung von Richterposten die WTO-Schiedsgerichte allmählich funktionsunfähig zu machen, dann lässt die Bedeutung der WTO in der Tat nach. Lighthizer scheint eine Rückkehr zu den GATT-Schiedsmechanismen vorzuschweben: Damals waren Schiedsgerichtsurteile nur dann wirksam, wenn sie von allen beteiligten Konfliktparteien akzeptiert wurden. Aber auch das GATT war deshalb kein unwirksames Abkommen.
Gefragt sind jetzt Alternativen
Aber die Welt braucht eine WTO, wie wir sie noch nicht kennen – eine WTO, die sich nicht auf die Handelsliberalisierung als Selbstzweck konzentriert, sondern Handelsregeln definiert, die weltweit nicht zu immer mehr Ungleichheit, zu mehr Marktmacht für multinationale Konzerne, oder zu Migrationsursachen für Menschen führt, deren Heimatregionen wirtschaftlich „abgehängt“ werden. Sie muss ein faires, regelbasiertes System gewährleisten, in dem sich nicht nur alle Mitgliedsregierungen gehört und respektiert fühlen, sondern das auch den allermeisten Menschen in diesen Ländern etwas bringt. Diese Regeln dürfen nicht die neoliberale Ideologie quasi völkerrechtlich als Verfassung der Weltwirtschaft festschreiben, sondern müssen demokratische Alternativen in der Wirtschaftspolitik ermöglichen. Das heißt: Eine WTO, deren Handelsregeln die Entwicklung im Globalen Süden für eine breite Mehrheit ermöglicht und nicht nur für eine Handvoll herrschender Eliten. Eine WTO, deren Verträge eine unterschiedliche Behandlung von Waren und Dienstleistungen entlang ökologischer und sozialer Kriterien nicht verbietet, sondern im Gegenteil sogar verlangt, damit sich Raubbau, Umweltzerstörung und Ausbeutung nicht als Konkurrenzvorteil auswirken, sondern als Marktzugangssperre. Eine WTO, die nicht ohne Sinn und Verstand alle Märkte globalisieren will, sondern gerade auch Agrarmärkte teilweise wieder de-globalisiert. Eine WTO, die nicht im Geiste des Neoliberalismus Regulierung im öffentlichen Interesse – auch von sogenannten „globalen Wertschöpfungsketten“ – als „Handelshemmnis“ erschwert, sondern Regulierung im öffentlichen Interesse erleichtert. Nur dann können die UN- Nachhaltigkeitsziele realisiert werden.
Niemand sollte glauben, dass dies einfach wird. Handelspolitik ist Außenwirtschaftspolitik, und im Zeitalter einer globalisierten Weltwirtschaft wird sie sich nur ändern, wenn sich die Wirtschaftspolitik ändert. Während der WTO-Konferenz konnte man in Buenos Aires live erleben, worum es geht. Die MC11 fand in einer vollständig militarisierten Stadt, inmitten von Massenmobilisierungen, Streiks und Protesten gegen neoliberal geprägte Arbeitsmarkt- und Rentenreformen der Macri-Regierung statt. Die sozialen Kämpfe waren omnipräsent und soziale Bewegungen wurden auf verschiedenste Art angegriffen. Wenige Wochen vor der MC11 wurde knapp 65 akkreditierten Personen aus NGOs und Medien die Einreise nach Argentinien und die Teilnahme an der MC11 untersagt bzw. entzogen, ein einmaliger Präzedenzfall für ein Gastgeberland internationaler Konferenzen. Erwartungsgemäß entpuppte sich dies aber als Eigentor – die betroffenen Personen bekamen dadurch sehr viel mehr Medienecho in Argentinien wie auch in ihren Heimatländern.
Was bleibt von der MC11?
Die Ministerkonferenz war ein guter Anlass für die internationale Zivilgesellschaft, zusammenzukommen, eigene Themen zu setzen und sich auszutauschen – beispielsweise im Rahmen des Alternativgipfels „Fuera OMC“ – „WTO raus“. Schon immer hat es einen starken Diskurs der Alternativen gegeben, der sich nicht nur rein an den Eckpunkten der WTO abarbeitet, sondern selbst gesellschaftliche Alternativen und Visionen entwickelt. Es wird wieder Zeit für einen Aufschwung solcher Foren, um Erfahrungen und Sichtweisen auszutauschen, um Alternativen zu besprechen, weiterzuentwickeln, und auszuprobieren. Es wird zeitnah weitere geben…nicht zuletzt vielleicht das Weltsozialforum im März in Brasilien.
Nelly Grotefendt ist Referentin für Politik, Weltwirtschaft und Handelspolitik beim Forum Umwelt und Entwicklung.
Jürgen Maier ist Geschäftsführer des Forum Umwelt und Entwicklung.
Der Text ist als PDF verfügbar.
Bild URL:
eigene Aufnahmen & https://www.flickr.com/photos/world_trade_organization/27272818229/