Veranstaltung des Umweltministeriums Niedersachsen, Hannover 28.8.2017
Eröffnungsvortrag Jürgen Maier, Forum Umwelt & Entwicklung
Lassen Sie mich zunächst einmal feststellen: Flucht und Migration sind zwei verschiedene Dinge. Wer vor einem Krieg oder einer Diktatur flieht, hat andere Motive als jemand, der auf der Suche nach einem besseren Leben seine Heimat verlässt. Der Begriff »Wirtschaftsflüchtling« suggeriert, dass das alles dasselbe ist, aber das ist Unsinn. Wer aus Brandenburg nach Baden-Württemberg zieht, weil es in Stuttgart mehr Arbeitsplätze gibt als in Cottbus, ist doch kein »Wirtschaftsflüchtling«. Dasselbe gilt für Menschen aus Rumänien oder Bulgarien, wenn sie nach Westeuropa gehen. Im Grundgesetz gibt es das Gebot, die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet zu wahren, deswegen gibt es z.B. den Länderfinanzausgleich. Sie sehen schon, wie schwierig das spätestens seit der Wiedervereinigung in Deutschland ist; international ist so etwas nicht möglich.
Aber wir sollten vielleicht über eine Maxime nachdenken, dass deutsche und europäische Politik die Lebensverhältnisse in anderen Teilen der Welt zumindest nicht verschlechtern sollte. Denn auch wenn es millionenfache Migration in der Menschheitsgeschichte immer gegeben hat und immer geben wird, erst recht in Zeiten der sogenannten Globalisierung, über eines sollten wir uns einig sein: wir sollten nicht dazu beitragen, dass Menschen zur Migration förmlich gezwungen werden, weil die wirtschaftlichen Verhältnisse in ihrer Heimat immer schlechter werden.
Genau das aber ist in weiten Teilen der Welt der Fall. Die wichtigste Migrationsursache scheint mir zu sein, dass immer mehr Menschen keine angemessene wirtschaftliche Perspektive in ihrer Heimat mehr sehen. Auch in Deutschland war das jahrhundertelang so, da wanderten die Menschen eben vor der ganzen Armut nach Amerika, nach Russland, nach Australien aus. Armutsbekämpfung sollte aber nicht durch Auswanderung stattfinden. Sie kennen alle die Erfolgsstatistiken über die Armutsbekämpfung, ja, es stimmt: Hunderte Millionen Menschen sind in den letzten Jahrzehnten schon aus der Armut herausgekommen, die diversen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen sind ja durchaus zu erheblichen Teilen erreicht worden. Dort, wo das der Fall ist, wandert auch kaum jemand aus. In China oder anderen asiatischen Ländern gibt es Binnenmigration, mehr oder weniger geregelt, mehr oder weniger zeitlich befristet, und das ist ein Ausdruck erfolgreicher Entwicklung, auch wenn die keineswegs immer nachhaltig ist. Aber ohne China würden die weltweiten Statistiken zur Armutsbekämpfung leider ganz anders aussehen.
Schauen wir nach Afrika, wo es zwar auch Entwicklung gibt, wo aber dennoch weite Teile der Bevölkerung von dem Kuchen der Entwicklung nichts oder kaum etwas abbekommen. Im Gegenteil: Asiens sogenannte Tigerstaaten konnten sich deshalb erfolgreich entwickeln, weil sie sich nur schrittweise in den Weltmarkt integriert haben und in den Sektoren, wo sie von einer solchen Öffnung nichts zu gewinnen hatten, knallharten Protektionismus betrieben haben. Aber den Ländern Afrikas ist diese Option durch massiven Druck der EU-Länder verwehrt geblieben, wir haben ihnen eine immer weitergehende Marktöffnung aufgezwungen. Vorbei sind die Zeiten der Handelsabkommen von Lomé oder Cotonou, mit denen die EU ihre Märkte für afrikanische Exporte geöffnet hat, ohne dieselbe Öffnung von den Afrikanern zu fordern. Heute zwingen wir sie, ihre Märkte zu öffnen, ohne Rücksicht auf Verluste, und wenn dieselben Regeln für Starke und für Schwache gelten, können Sie sich denken was dabei herauskommt. Nicht nur zaghafte Ansätze einer Industrialisierung gingen dadurch kaputt. In Ghana hat man mal Tomaten angebaut und in Konservenfabriken Tomatenpräparate exportiert. Tomaten wachsen gut in Ghana. Heute haben europäische Tomatenexporte die Märkte Ghanas erobert, so mancher frühere Tomatenbauer arbeitet heute als illegaler Migrant zu Hungerlöhnen in Italien oder Spanien.
Das ist nicht das einzige Beispiel. Die Folgen dieser Handelspolitik, dieser erzwungenen Marktöffnung sehen Sie überall im Landwirtschafts- und Lebensmittelbereich. Letztes Jahr hatten wir die Präsidentin des Milchbauernverbands von Burkina Faso zu Gast bei einem Kongress, und sie hat berichtet, dass der Anteil von europäischer Hersteller am Milchmarkt in Burkina Faso inzwischen bei fast 90% liegt. Die EU hat Burkina Faso mit ihren Handelsabkommen praktisch verboten, Einfuhrzölle auf Milchprodukte zu verhängen, und gegen die hochsubventionierte europäische Agrarindustrie haben die natürlich keine Chance. Die Folgen: Die Kinder der Milchbauern werden heute nicht mehr Milchbauern, sondern Migranten. Früher kamen sie nur bis in die Hauptstadt, heute auch weiter. Auf dem Höhepunkt der europäischen Milchkrise durch die Überproduktion vor 2 Jahren lud der Bundeslandwirtschaftsminister zu einem Milchgipfel, dessen Hauptergebnis war: mehr Exporte, so werden wir die Überschüsse los. Wieviele afrikanische Milchbauern wollen wir eigentlich noch ruinieren?
Wenn wir uns die EU-Handelspolitik ansehen, stellen wir fest: die haben noch etwa 20 weitere Abkommen in der Pipeline, und ausser über einige wenige wie TTIP regt sich hierzulande darüber kaum jemand auf – weil diese vielen Abkommen nämlich nur in den Drittländern Folgen haben werden, und nicht bei uns. Die Regierungen Europas, egal wer regiert, von ganz links bis ganz rechts, wollen diese Abkommen, aber viele der Länder mit denen verhandelt wird wollen sie nicht, jedenfalls nicht in dieser Form. Der rote Faden, der sich durch alle geplanten Abkommen zieht, ist die weitere Globalisierung der Agrarmärkte und der Dienstleistungsmärkte, ohne Rücksicht auf Verluste. »Offensive Interessen« nennen das die Handelsdiplomaten in ihrer Sprache, im Klartext: Mehr Marktzugang für europäische Agrarexporte, mehr Marktzugang für europäische Dienstleistungsanbieter.
Bei den Agrarmärkten sind die Widerstände besonders gross, der Widerstand gegen TTIP fing bekanntlich auch mit dem Essen an. Erklärtes Ziel ist die weitere Senkung der Erzeugerpreise, und das heisst im Klartext die weitere Industrialisierung der Landwirtschaft, denn mit diesem Preisdruck können bäuerliche Erzeuger überall auf der Welt nicht mithalten. Die Verbraucher wollen längst was anderes, in den Supermärkten werden regionale Produkte beworben, die Nachfrage nach Bio steigt schneller als die eigene Produktion. Aber die EU, die Bundesregierung wollen die Fleisch- und Milchmärkte im Rest der Welt öffnen, um für die agrarindustrielle Überproduktion in der EU neue Märkte zu finden – und dort bäuerliche und regionale Strukturen plattzumachen und damit auch Arbeitsplätze und Existenzen. Diese Abkommen sind eine Kampfansage an die bäuerliche Landwirtschaft. Warum müssen wir Milchpulver nach Afrika, Schweinehälften in die Philippinen, Hühnchenteile in alle Welt liefern? Warum muss die EU »den abgeschotteten Süsswarenmarkt Mexikos knacken«? Warum sollen die aufstrebenden Mittelschichten in Schwellenländern mehr europäische Lebensmittel statt die Produkte der Bauern im eigenen Land kaufen? Wenn Sie der Bundesregierung die Frage stellen, was eigentlich mit denjenigen Erzeugern passiert, die dem erweiterten Marktzugang für EU-Exporteure zum Opfer fallen, dann bekommen Sie die Antwort: dafür sind wir nicht zuständig. Ausserdem, wer solche Fragen stellt, ist ein Protektionist, so einer wie Donald Trump. Igittigitt. So einfach ist das für die. Mit den geplanten Freihandelsabkommen mit den Agrarexportländern Südamerikas sowie Australien und Neuseeland soll umgekehrt die europäische Landwirtschaft unter weiteren massiven Preisdruck gesetzt werden. Ein regelrechter Preiskrieg, Roulettespiel mit der Zukunft der Landwirtschaft, anachronistisch aber politisch gewollt von Europas Regierungen.
Es geht aber nicht nur um Bauern und Lebensmittelverarbeiter. Eines der zentralen Themen ist praktisch bei allen geplanten Handelsabkommen, die Dienstleistungsmärkte weiter zu öffnen für europäische Konzerne. Aldi und Lidl sollen in den indischen Einzelhandelsmarkt einsteigen können. DHL soll Pakete in Malaysia austragen können. Chile soll Post, Telekommunikation und Abfallsammlung und Wasserversorgung liberalisieren, sprich kommerzialisieren. Ähnliche Forderungen richtet die EU an mehr oder weniger alle Länder, mit denen sie verhandelt.
Was soll das? Wer hat beschlossen, dass so etwas im öffentlichen Interesse Europas ist? Warum müssen Aldi und Lidl im kleinteiligen indischen Einzelhandel Millionen Arbeitsplätze vernichten dürfen? Ob das in diesen Ländern Arbeitsplätze kostet, ob die erzwungene Kommerzialisierung und Deregulierung öffentlicher Dienstleistungen wirklich so eine gute Idee ist – Fragen, die sich Bundesregierung und  Kommission nicht stellen und die sich der Rest der Welt längst stellt. Die Handelspolitik der EU ist, lassen Sie mich das klar sagen, in der Substanz eine Politik des Europe First, des Make Europe Great Again, und sie gehört grundlegend umgestaltet. Unser Exportüberschuss ist nicht zu klein, sondern viel zu hoch – an die 300 Mrd, pro Kopf 2750 Euro. Diese Handelspolitik ist eine Migrationsursache. Wir müssen sie ändern. Damit beißen wir bisher auf Granit, keine einzige Regierung der EU will das, im Gegenteil: im letzten Herbst haben sie alle ein Strategiedokument der Kommission abgenickt, mit dem diese Handelspolitik erneut bestätigt wurde.
Wir brauchen wieder Handelsabkommen, in denen Entwicklungsländer in Europa Marktzugang bekommen, ohne dass die EU die völlige Öffnung der Märkte dieser Länder verlangt. Das ist nichts Neues, das hatten wir jahrzehntelang, bis Europas Regierungen dem neoliberalen Wahn erlagen und alles liberalisieren und deregulieren wollen. Und wir müssen auch einige Märkte wieder regionalisieren statt immer weiter zu globalisieren. Weltmärkte für Smartphones machen Sinn, Weltmärkte für Milch sind Schwachsinn.
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf ökologische Migrationsursachen eingehen, man hört ja häufig die Meinung, aus Afrika kommen Klimaflüchtlinge. Ich bin da etwas zurückhaltend. Natürlich gibt es den Klimawandel, aber Dürren und Überschwemmungen gab es auch in der Vergangenheit. Solange es in einem Land intakte landwirtschaftliche Märkte gibt und eine halbwegs funktionierende Regierung, kommen zumindest bis jetzt Bauern auch in Afrika mit den zunehmenden Klimaextremen zurecht. Dass dies bei verschärftem Klimawandel nicht mehr so bleiben wird, ist auch klar. Aber die ökonomischen Rahmenbedingungen verschlechtern sich deutlich schneller als die ökologischen, und wir müssen aufpassen, dass wir nicht das eine gegen das andere ausspielen. Die Änderung der EU-Handelspolitik kann man notfalls bei einer einzigen Sitzung des EU-Rats beschliessen, den Klimawandel aufzuhalten geht nicht ganz so einfach. Wir müssen beides tun, aber wir sind zum Glück noch lange nicht an dem Punkt, wo der Klimawandel die Hauptursache für millionenfache Migration ist. Dass wir den Klimawandel stoppen müssen, ist klar, so oder so, aber das schafft die Menschheit nur gemeinsam, und das wird dauern. Aber die europäische Handelspolitik können wir in Europa ganz alleine ändern, und bei vorhandenem politischem Willen geht das auch ganz schnell – und dafür wird es höchste Zeit.
Diese Tagung geht über die Frage »Fluchtursachen, was können wir bei uns tun?«, bei uns, im Lande des Exportweltmeisters. Auf vieles konnte ich in der kurzen Zeit nicht eingehen, hier noch ein kurzer Blick auf die deutschen Rüstungsexporte.
Rüstungsexporte in Kriegs- und Konfliktgebiete sind natürlich ein ziemlich offensichtliches Thema – Deutschland ist einer der grössten Waffenexporteure der Welt, und das Gebot, sie nicht in Konfliktgebiete zu exportieren, wurde noch nie wirklich ernstgenommen – allein schon deshalb, weil natürlich nirgendwo die Nachfrage nach solchen Waffen so gross ist wie in Kriegs- und Konfliktgebieten. Wir sind längst an einem Punkt angekommen, wo die Bundesregierung nicht einmal mehr so tut, als würden mit deutschen Waffen nur Länder beliefert, die sich legitimerweise gegen eine äussere Bedrohung schützen wollen. Nur ein Beispiel: Ein Land wie Saudi-Arabien mit Waffen und Militärgerät auszurüsten, während es den Yemen in Grund und Boden bombt, ist nur der traurige Tiefpunkt einer Rüstungsexportpolitik, die eine klare Fluchtursache ist. Terre des hommes schätzt, dass alle 14 Minuten irgendwo auf der Welt ein Mensch durch deutsche Waffen stirbt.
Ich glaube, eine grundlegende Umorientierung unserer Handels- und Aussenwirtschaftspolitik ist der wichtigste, der wirksamste Ansatzpunkt. Genau das steht bisher nicht auf der Tagesordnung der Parteien, die in den Ländern Europas regieren, genau das wollen sie nicht hören. Solange sich das nicht ändert, solange wir weiterhin vielen Menschen in anderen Ländern für unsere Exportrekorde die Lebensgrundlagen kaputt machen, werden die Migrationsströme nicht abnehmen, sondern zunehmen. Lassen Sie uns daher gemeinsam auch in Zukunft für eine andere Handels- und Aussenwirtschaftspolitik eintreten.
Vielen Dank.