Vortrag von Jürgen Maier, Geschäftsführer des Forum Umwelt und Entwicklung, im Rahmen der Diskussionsveranstaltung „Frei oder fair? – Handel mit dem Maghreb” der Deutsch-Maghrebinischen Gesellschaft
Bonn, 17. Oktober 2017
Alle reden über Globalisierung, wir heute Abend auch. Aber heute Abend geht es mal nicht um die Auswirkungen von Freihandelsabkommen wie TTIP oder CETA auf uns. Heute reden wir über geplante Freihandelsabkommen der EU mit anderen Ländern, mit Marokko und Tunesien. Breiter öffentlicher Widerstand haben TTIP und das Dienstleistungsabkommen TISA einstweilen gestoppt, und wird vielleicht auch das Kanada-Abkommen CETA noch stoppen. Aber mit den vielen geplanten Freihandelsabkommen mit Entwicklungsländern sieht es anders aus. Auch die progressive Zivilgesellschaft kümmert sich nämlich in erster Linie um Abkommen, bei denen man selber betroffen ist, also mit Chlorhühnchen, Schiedsgerichten, Deregulierung usw. konfrontiert wird. Also um Abkommen mit anderen Industrieländern. Geplante Abkommen mit Entwicklungsländern haben aber kaum Auswirkungen bei uns, und so gibt es die Proteste dagegen eben auch weniger bei uns als dort.
Das ist schon länger so. Allen Kontroversen um TTIP zum Trotz – Änderungen an den Prioritäten der EU-Handelspolitik sind nicht vorgesehen. Sie folgt weiterhin den Grundzügen einer Strategie aus dem Jahr 2006 genannt „Global Europe“. Sie war eine Reaktion auf den vielzitierten Stillstand in der WTO, der in Wirklichkeit vor allem ein erfolgreicher Widerstand der Entwicklungsländer gegen die kompromisslose Liberalisierungsagenda von EU und USA ist. Noch im Herbst 2015 wurden die Ziele dieser Strategie von der Kommission bekräftigt– man will sie zwar besser kommunizieren, aber nicht die Inhalte ändern.
Das zentrale Ziel der Global Europe-Strategie ist, die EU soll der »wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum der Welt« werden, und wenn man das zum Ziel hat, dann ist natürlich klar: dafür müssen die Märkte der anderen geöffnet werden, und ebenso klar ist, dass der wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum der Welt von solchen schrankenlos offenen Märkten am meisten profitiert und die anderen davon nicht ganz so begeistert sein können. Make Europe Great Again, so könnte man es auch nennen – aber nein, das ist natürlich kein Wirtschafts-Nationalismus, das geht ja schon deshalb nicht weil die EU keine Nation ist, aber Egoismus ist es schon.
Aber man muss natürlich auch sagen, sehr weit sind sie damit bisher nicht gekommen. Über den grössten Teil der geplanten Abkommen und praktisch alle wichtigeren wird verhandelt und verhandelt und verhandelt, aber es klemmt überall. TTIP und CETA sollten diesen beklagenswerten Zustand ändern, sollten die „modernsten Handelsabkommen der Welt“ werden, und erreichten doch das genaue Gegenteil. So umstritten wie heute war die EU-Handelspolitik schon lange nicht mehr.
Schauen wir uns mal an, worum es eigentlich geht bei den mehr als 20 Abkommen, die die EU noch in der Pipeline hat, soweit wir das beurteilen können. Die Verhandlungsmandate, die Verhandlungsberichte all dieser Abkommen sind ja geheim, nach wie vor, allen Transparenzversprechen zum Trotz.
Eines der zentralen Themen ist praktisch bei allen geplanten Handelsabkommen, die Dienstleistungsmärkte weiter zu öffnen für europäische Konzerne. Aldi und Lidl sollen in den indischen Einzelhandelsmarkt einsteigen können. DHL soll Pakete in Malaysia austragen können. Chile soll Post, Telekommunikation und Abfallsammlung liberalisieren, sprich kommerzialisieren. Ähnliche Forderungen – zum Beispiel nach Übernahme von bis zu 100 Prozent lokaler Fernseh- und Radiostationen durch ausländische Konzerne – richtet die EU an viele weitere Länder. Ausdrücklich verlangt die EU von diesen Ländern, Bestimmungen abzuschaffen, wonach Privatisierungen etwa der kommunalen Wasserversorgung wieder rückgängig gemacht werden können.
Und so weiter. Was soll das? Wer hat beschlossen, dass so etwas im öffentlichen Interesse Europas ist? Ob das in diesen Ländern Arbeitsplätze kostet, ob die erzwungene Kommerzialisierung und Deregulierung öffentlicher Dienstleistungen wirklich so eine gute Idee ist – Fragen, die sich die Kommission nicht stellt und die sich der Rest der Welt längst stellt. In diesen sogenannten modernen Handelsabkommen wie TISA und CETA gilt der Negativlisten-Ansatz – das zeigt, wo es nach dem Willen der Kommission und Europas Regierungen lang gehen soll: alles wird liberalisiert, vollständige und irreversible Marktöffnung ist die Regel – es sei denn es werden Ausnahmen definiert. Diese Politik wollen zwar die meisten Menschen in Europa nicht mehr, aber das ist noch lange kein Grund die Handelspolitik zu ändern.
Ein weiterer roter Faden, der sich durch alle geplanten Abkommen zieht, ist auch die weitere Globalisierung der Agrarmärkte, ohne Rücksicht auf Verluste. Hier sind die Widerstände besonders groß, der Widerstand gegen TTIP fing bekanntlich auch mit dem Essen an. Erklärtes Ziel ist die weitere Senkung der Erzeugerpreise, und das heißt im Klartext die weitere Industrialisierung der Landwirtschaft, denn mit diesem Preisdruck können bäuerliche Erzeuger überall auf der Welt nicht mithalten. Die Verbraucher wollen längst was anderes, in den Supermärkten werden regionale Produkte beworben, die Nachfrage nach Bio steigt schneller als die eigene Produktion. Mit 20 geplanten Freihandelsabkommen versucht die EU, Fleischmärkte in Asien und Afrika zu öffnen, um für die agrarindustrielle Überproduktion in der EU neue Märkte zu finden – und dort bäuerliche und regionale Strukturen platt zumachen. Deswegen ist der Widerstand in Japan und asiatischen Ländern gegen diese Abkommen vor allem unter den Bauern stark, weil sie diese Abkommen als das begreifen was sie sind: eine Kampfansage an die bäuerliche Landwirtschaft. Mit den geplanten Freihandelsabkommen mit den Agrarexportländern Südamerikas sowie Australien und Neuseeland soll umgekehrt die europäische Landwirtschaft unter weiteren massiven Preisdruck gesetzt werden. Ein regelrechter Preiskrieg, Roulettespiel mit der Zukunft der Landwirtschaft, anachronistisch aber politisch gewollt von Europas Regierungen von links bis rechts und der EU-Kommission. Schon die russischen Sanktionen gegen die EU-Landwirtschaft haben gezeigt, welche fatalen Konsequenzen diese Weltmarktfixierung hat. Jenseits aller Umwelt- und Tierschutzargumente ist sie auch ökonomisch eine Sackgasse, aber Europas Regierungen bleiben unbeirrt bei dieser fatalen Politik. Fester Bestandteil der EU-Handelspolitik seit 25 Jahren ist auch die Verschärfung der Saatgutgesetze, das Durchsetzen ausufernder »geistiger Eigentumsrechte« auf Saatgut und die Kriminalisierung von Bauern, die ihre Ernte als Saatgut wiederverwenden statt bei Agrarkonzernen Saatgut neu einzukaufen. Schön für Bayer und Monsanto, schlecht für die Bauern. Globalisierung neu definieren? Lippenbekenntnisse.
Ganz hoch auf der Tagesordnung steht auch in allen halbwegs wichtigen Abkommen die Einführung der neuen Investitionsschiedsgerichte, die sich die EU als Reaktion auf die massive Kritik an den privaten Schiedsgerichten ausgedacht hat. Sie sind eine etwas modernere Paralleljustiz für Konzerne als bisher, aber in der Substanz dasselbe. Kein normaler Mensch versteht, warum unsere Verwaltungsgerichte zwar gut genug für Sie und mich sind, aber nicht für multinationale Konzerne, und kein normaler Mensch versteht, warum Konzerne neue Klagerechte erhalten sollen, aber auf keinen Fall neue Pflichten bekommen sollen – das ist neoliberale Wirtschaftspolitik vom Feinsten, und die Kommission, die Regierungen der EU und auch das Europaparlament wollen daran nichts ändern.
In diesem Kontext stehen die geplanten Freihandelsabkommen, sogenannte Deep and Comprehensive FTAs, die die EU mit Marokko und mit Tunesien schliessen möchte. Die Kommission beschreibt die Zielsetzung wie folgt: „Diese Verhandlungen zielen auf die weitere Handels-Liberalisierung bei Agrarprodukten, im Dienstleistungsbereich, die Anerkennung industrieller Normen und sowie die Angleichung in der Regulierung.“
Mit Marokko wird seit Frühjahr 2013 verhandelt, mit Tunesien seit Herbst 2015. Mit Algerien ist derzeit kein Abkommen geplant, weil Algerien das nicht will und es auch mit dem bisherigen, nicht sehr weitreichenden Kooperationsabkommen ständig Schwierigkeiten gibt, weil Algerien seine Märkte nicht so weit öffnen will wie die EU gerne möchte.
Mit Marokko hat die EU seit 2000 ein Assoziationsabkommen, ein Agrar- und Fischereiabkommen von 2012 ist durch ein EuGH-Urteil in Frage gestellt. Der EuGH hat nämlich festgestellt, das Abkommen dürfe sich nicht auf die Westsahara beziehen. Aus Sicht von Umwelt- und Entwicklungsorganisationen ist dieses Fischereiabkommen genauso problematisch, nicht nur wegen der Westsaharafrage sondern weil es wie ähnliche Abkommen mit anderen afrikanischen Staaten massiv zur Überfischung beiträgt und gleichzeitig die lokalen Kleinfischereien plattmacht, damit Europa seinen überdimensionierten Fischkonsum aufrechterhalten kann. Aber auch der Agrarteil des Abkommens ist für Marokko kein guter Deal. Marokko verpflichtet sich, Agrarimporten aus der EU über einen Übergangszeitraum von 10 Jahren zollfreien Marktzugang zu gewähren, während im Gegenzug die EU Marokko nur erhöhte Quoten für den europäischen Winter, im Zeitraum Oktober-Mai zubilligt. Schlechter Deal. Aber die herbe Enttäuschung kam schon im Dezember 2013 – die EU beschloss ihre neue Gemeinsame Agrarpolitik, und einseitig und ohne jede Konsultation mit Marokko wurde ein erheblicher Teil der Tomatenexporte Marokkos abgewürgt. Umgekehrt hat die EU natürlich keine Konzessionen gemacht. Früher hat man mal mit Entwicklungsländern Handelsabkommen abgeschlossen, bei denen wir den Markt aufgemacht haben ohne im Gegenzug dasselbe von den Entwicklungsländern zu verlangen. Lange vorbei, heute machen wir es offenbar andersrum. Vorbei sind die Zeiten der Handelsabkommen von Lomé oder Cotonou, mit denen die EU ihre Märkte für afrikanische Exporte geöffnet hat, ohne dieselbe Öffnung von den Afrikanern zu fordern. Heute zwingen wir sie, ihre Märkte zu öffnen, ohne Rücksicht auf Verluste, und wenn dieselben Regeln für Starke und für Schwache gelten, können Sie sich denken was dabei herauskommt.
Die Verhandlungen mit Marokko liegen aber seit Anfang letzten Jahres auf Eis, nach 4 Verhandlungsrunden zog Marokko die Notbremse, sehr zum Bedauern der EU-Kommission. Offiziell wegen des EuGH-Urteils zum Fischereiabkommen, inoffiziell aber wegen des erheblichen Widerstands in Marokko gegen die von der EU verlangten Marktöffnungen. Diesen Widerstand gibt es nicht nur in der Zivilgesellschaft, sondern natürlich auch in den betroffenen Wirtschaftskreisen. Marokkanische Organisationen kritisieren das, was auch wir an solchen Abkommen kritisieren, angefangen von der totalen Geheimniskrämerei bis zu den falschen Zielsetzungen. Marokko hat ein erhebliches Handelsdefizit und kann von daher schon kein Interesse an einer weiteren Marktöffnung haben. Aber es geht nicht nur um Marktöffnungen. Auf der Tagesordnung stehen auch die sogenannte Regulierungskooperation, mit der Marokkos Wirtschaft nach und nach die EU-Regulierung und Normen übernimmt, weil eigene Regulierungen als „Handelshemmnis“ abqualifiziert werden. Und natürlich geht es auch um eine Paralleljustiz für Konzerne, sogenannte Schiedsgerichte, mit denen Konzerne Schadenersatz für profitschmälernde Regulierung einklagen können.
Marokko hat seit Ende der 90er Jahre Freihandelsabkommen mit 56 Ländern abgeschlossen, abgesehen von der Schweiz, Norwegen, den USA und Kanada überwiegend mit anderen Entwicklungsländern vorwiegend in Afrika. Marokko gilt heute als eine offenere Volkswirtschaft als etwa die Türkei, oder Indien. Der Grad der Offenheit wuchs von unter 50% vor 15 Jahren auf heute 63%, und im selben Ausmass wuchs das Handelsbilanzdefizit – heute sage und schreibe 24% des BNP, eine Vervierfachung in 10 Jahren! Und parallel dazu wuchs die die Arbeitslosigkeit, man hat quasi Arbeitsplätze exportiert,  und die Staatsverschuldung, die liegt heute auf Rekordniveau. Den allergrössten Anteil an diesem Handelsbilanzdefizit hat auch jetzt schon die EU, ohne FHA. Die internationale Arbeitsteilung – Entwicklungsländer liefern Rohstoffe, die Wertschöpfung findet woanders statt – wird so festgeschrieben. Marokko ist inzwischen sogar Nettoimporteur von Grundnahrungsmitteln wie Milch und Getreideprodukte. Die Exporterlöse aus den drei wichtigsten Exportprodukten im Nahrungsmittelsektor – Zitrusfrüchte, Tomaten, Gemüse – decken noch nicht einmal die Importkosten für Weizen. Wenn man von den Weltmarktpreisen für Weizen abhängt, ist das katastrophal. Aber Sie können Fakten über Fakten aufzählen, die Propagandisten des freien Handels werden Ihnen immer erzählen, freier Handel schafft Wohlstand, wie mit einer Gebetsmühle, und wer das bezweifelt ist ein Protektionist, also so ein schrecklicher Mensch wie Donald Trump. Igittigitt. Dann ist die Debatte üblicherweise beendet.
In der Realität konterkarieren Marokkos Handelsabkommen seine Entwicklungsstrategie – die Industrialisierungsstrategie sollte eigentlich 220 000 Jobs bis 2015 schaffen, aber in der Realität gingen allein 2009-2012 25000 verloren. Wie auch hierzulande breitet sich ein Niedriglohnsektor aus, neue Arbeitsplätze sind oft mehr als prekär.
Schon vor 10 Jahren gab es einige Studien über die Auswirkungen von Freihandelsabkommen der EU mit den Ländern Nordafrikas, von der EU-Kommission selber in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse waren ziemlich eindeutig: Sie sagten Jobverluste, Lohnsenkungen und verstärkte Armut voraus. Sektoren wie Textilien, das verarbeitende Gewerbe und die Landwirtschaft würden leiden. Im Bereich Einzelhandel werden insbesondere die großen Akteure gewinnen. Der Textilsektor könnte in beiden Ländern der größte Verlierer sein und das obwohl es sich hierbei um einen der wichtigsten Branchen beider Länder handelt. Marokkos Textilsektor hatte bereits von 1999 bis 2014 einen Arbeitsplatzverlust von knapp 30000 Arbeitsplätzen zu verzeichnen aufgrund von Importen aus der EU. So etwas nennt man Deindustrialisierung. Der gesamte Sektor könnte bis zu 65% schrumpfen – so etwas können Zuwächse in anderen Sektoren auf keinen Fall kompensieren.
Der arbeitsintensive Dienstleistungssektor ist bisher noch nicht betroffen, aber mit dem von der EU geplanten neuen Abkommen wäre auch er dran. Dabei geht es nicht nur darum, dass Aldi und Lidl, Banken und Versicherungen ins Land kommen, vor allem hat die EU es auch darauf abgesehen, die öffentlichen Dienstleistungen und Daseinsvorsorge, von der Post und Telekommunikation über das Wasser und Abwasser, den Energiesektor, die Müllabfuhr und so weiter zu öffnen, pardon, zu liberalisieren, und dann zu privatisieren. Ein zentraler Punkt ist hier auch die öffentliche Beschaffung, die etwa 15% des marokkanischen BNP ausmacht – auch die soll für EU-Konzerne geöffnet werden. So etwas ist zwar das Gegenteil von Entwicklung, aber in ihrem neoliberalen Wahn ist das der EU-Kommission und den EU-Regierungen, von links bis rechts völlig egal – und dann wundern sie sich, wenn junge Männer aus Marokko plötzlich in Europa auftauchen, auf der Suche nach Arbeitsplätzen. Marokko würde mit einem FHA mit der EU dauerhaft zu einem Absatzmarkt für EU-Konzerne und zu einem Lieferanten billiger Rohstoffe und halbverarbeiteter Waren degradiert. Wichtige und sinnvolle Entwicklungsinstrumente – von Regionalentwicklung mit öffentlicher Beschaffung über Investitionsauflagen für ausländische Konzerne bis hin zu Exportsteuern für Rohstoffe – würden durch die von der neoliberalen Ideologie geprägten FHAs dauerhaft verboten. Souveränität sieht anders aus. Mit Entwicklung hat das nichts zu tun, im Gegenteil: Diese Handelspolitik ist eine Migrationsursache.
Was Tunesien angeht, sieht es im Grunde ganz ähnlich aus wie in Sachen Marokko, nur dass es hier weder ein Fischereiabkommen gibt noch ein Westsahara-Problem. Dafür gibt es eine erheblich aktivere Zivilgesellschaft und Gewerkschaften. Die haben gleich zu Beginn der Verhandlungen mit der EU 2015 eine öffentliche Konsultation eingefordert und auch eine kritische Bilanz des seit 1998 bestehenden Assoziationsabkommens mit der EU, mit dem Tunesien schon viele Zoll-Linien abbauen musste, ohne dass die EU vergleichbare Konzessionen gemacht hätte. Gemeinsam mit französischen Organisationen erklärten sie, das von der EU gewünschte Abkommen entspreche nicht den Bedürfnissen Tunesiens und werde weder Arbeitsplätze noch soziale Gerechtigkeit schaffen. Die Textilindustrie, das verarbeitende Gewerbe würde erheblich unter der völligen Öffnung der Märkte für EU-Exporteure leiden. Sie lehnen den Import subventionierter EU-Agrarprodukte ab und verlangen, dass ausländische Unternehmen lokal investieren und Arbeitsplätze schaffen statt nur Produkte importieren – und sie lehnen das Prinzip ab, dass es zwar freien Handel für Waren, aber keine freie Mobilität für Menschen geben soll. Weitere Forderungen: Keine Öffnung der öffentlichen Beschaffung, keine Kommerzialisierung öffentlicher Daseinsvorsorge. Außerdem fordern sie die Veröffentlichung aller Verhandlungsdokumente und unabhängige Studien über die Auswirkungen eines solchen Abkommens, indem insbesondere auf die wirtschaftlichen und sozialen Rechte: werden Arbeitsplätze sicherer oder nicht, gibt es mehr Subunternehmer, wird die soziale Sicherheit verbessert, werden sich die Steuereinnahmen erhöhen oder sinken sie. Also alles Fragen, die sich europäische Regierungen nie stellen, wenn sie wieder ein neues Freihandelsabkommen propagieren.
Nun hat ja die tunesische Zivilgesellschaft den Nobelpreis für gelungene Demokratisierung bekommen, und so kann es auch nicht wundern, dass es genau eine Verhandlungsrunde gab, und danach lagen Verhandlungen mit der EU schon auf Eis. Tunesiens Regierung erklärte der Kommission, sie müsse erst im Lande konsultieren, ob das Abkommen überhaupt gewünscht sei, man werde sich dann wieder melden. Im Augenblick gibt es auf tunesischer Seite noch nicht einmal mehr ein Verhandlungsteam. Vielleicht hat auch die EU zu der Verhandlungspause beigetragen, weil sie gleich zur ersten Runde ein fertiges Abkommen auf den Tisch gelegt hat, wie sich die das so wünscht – da waren die Tunesier natürlich brüskiert. Dennoch sollte man nicht zu optimistisch sein, hinter den Kulissen läuft so einiges. Die EU hat anscheinend den Tunesiern einige verbesserte Marktzugangsangebote für Agrarprodukte gemacht, weil man, so die Bundesregierung, für die Stabilisierung der jungen Demokratie schon auch ein paar Konzessionen mache. Allerdings nicht die Deutschen – die konkurrieren ja nicht mit den Zitrusfrüchten oder Oliven, die die Tunesier exportieren können. Die Konzessionen der EU machen also die Griechen, Spanier, Italiener, aber doch nicht die reichen Deutschen, wo denken Sie hin. So zynisch ist die Welt. Angeblich will die EU in diesen Tagen in Tunis Studien vorstellen zu Arzneimitteln und Dienstleistungen, sie lassen also nicht locker. Auch wenn die Verhandlungsdokumente wie immer geheim sind, abgesehen von den ab und zu durchsickernden Informationen, wir kennen die Agenda der EU und ihrer Regierungen, und so liegt man auf jeden Fall richtig, wenn man sagt, dass es im wesentlichen um dieselben Fragen geht wie bei den Verhandlungen mit Marokko. Bei Arzneimitteln will die EU den Patentschutz im Interesse europäischer Pharmakonzerne verlängern, dann dauert es länger bis sich die Patienten in armen Ländern preiswerte Medikamente leisten können. Medikamente wie Sofosbuvir gegen Hepatitis C, die sich viele nicht mehr leisten können, wenn die EU-Vorstellungen realisiert würden. 625000 Menschen nehmen dieses Medikament in Marokko. Der Profit, pardon neudeutsch heisst das ja shareholder value, von Bayer & Co ist eben wichtiger als diese Leute.
Was soll das? Wer hat beschlossen, dass so etwas im öffentlichen Interesse Europas ist? Warum müssen Aldi und Lidl im kleinteiligen Einzelhandel anderer Länder Millionen Arbeitsplätze vernichten dürfen? Ob das in diesen Ländern Arbeitsplätze kostet, ob die erzwungene Kommerzialisierung und Deregulierung öffentlicher Dienstleistungen wirklich so eine gute Idee ist – Fragen, die sich Bundesregierung und EU-Kommission nicht stellen und die sich der Rest der Welt längst stellt. Die Handelspolitik der EU ist, lassen Sie mich das klar sagen, in der Substanz eine Politik des Europe First, des Make Europe Great Again, und sie gehört grundlegend umgestaltet. Unser Exportüberschuss ist nicht zu klein, sondern viel zu hoch – an die 300 Mrd, pro Kopf 2750 Euro, vom Säugling bis zum Greis, jeder und jede hier hat 2750 Euro Überschuss im Handel mit dem Rest der Welt. In China sind es keine 700. Diese Handelspolitik ist eine Migrationsursache. Wir müssen sie ändern. Damit beißen wir bisher auf Granit, keine einzige Regierung der EU will das, von ganz links bis ganz rechts, im Gegenteil: vor einem Jahr haben sie alle ein Strategiedokument der Kommission abgenickt, mit dem diese Handelspolitik erneut bestätigt wurde.
Jetzt wäre die Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen unter eine EU-Handelspolitik, deren Grundparadigmen keine gesellschaftliche Akzeptanz mehr haben und deren Folgen uns immer mehr einholen. Jetzt geht es um eine Politik, die Nachhaltigkeitsbarrieren abräumt, die Gerechtigkeitsbarrieren abräumt – Handelsbarrieren haben wir die letzten Jahrzehnte mehr als genug abgeräumt. Darüber brauchen wir jetzt eine demokratische Diskussion. Ich glaube, es ist klar geworden: Der globale Konkurrenzkampf aller gegen alle ist ein Irrweg, die Verwerfungen sehen wir doch überall. Die meisten gehen dabei unter, übrig bleiben ein paar Konzerne, und dann ist auch der vielgepriesene Wettbewerb zu Ende. Es gibt viel mehr Verlierer als Gewinner, Brexit, Trump, Migrationsströme, Entvölkerung ländlicher Räume und so weiter sind die Konsequenzen. Wie blind muss man eigentlich sein, um immer noch das „weiter so“ zu predigen?
Wir müssen unsere Exportrekorde nicht erhöhen, sondern runterfahren, Arbeitsplätze durch mehr regionale Wirtschaftsstrukturen schaffen – und das heisst auch, wir müssen auch einige Märkte wieder regionalisieren, Globalisierung zurückfahren, Marktöffnungen zurücknehmen statt immer mehr Existenzen plattzumachen. Weltmärkte für Smartphones machen Sinn, Weltmärkte für Milch sind Schwachsinn, amtlich verordneter Schwachsinn. Hören wir auf damit.