Keynote von Jürgen Maier, Geschäftsführer des Forums Umwelt und Entwicklung, auf der Konferenz des Umweltdachverbands, Wien 3.12.2019
Im Mai dieses Jahres wurde ein neuer Bericht des weltweiten Wissenschaftsrats zur biologischen Vielfalt, IPBES , vorgestellt, den man nur noch als alarmierend bezeichnen kann. Einige der dramatischsten Fakten dieses Berichtes: Von den geschätzt acht Millionen Tier- und Pflanzenarten weltweit sind rund eine Million vom Aussterben bedroht. Es geht dabei nicht nur um Pandas und Nashörner, fast alles sind unspektakuläre kleine Tiere und Pflanzen. Das Ausmaß des Artensterbens war in der Geschichte der Menschheit noch nie so groß wie heute – und die Aussterberate nimmt weiter zu. Drei Viertel der Naturräume an Land wurden vom Menschen bereits erheblich verändert, in den Meeren zwei Drittel. 85 Prozent der Feuchtgebiete sind verloren gegangen. Die globale Biomasse von wildlebenden Säugetieren ist um 82 Prozent zurückgegangen. Natürliche Ökosystemleistungen sind um 47 Prozent zurückgegangen. Wir erleben das sechste Massenaussterben in der Erdgeschichte, und wir sind die Täter, nicht ein Meteorit oder andere Dinge.
Die Ursachen für diese alarmierende Entwicklung sind nicht überraschend: Die heutige Wirtschaftsweise zerstört natürliche Lebensräume in großem Stil, weil dort Rohstoffe abgebaut werden, Agrarprodukte angebaut werden, Wälder abgeholzt werden oder immer mehr Fläche zugebaut wird. Umweltgifte, von Pestiziden über Mikroplastik bis zu hormonell wirksamen Stoffen, setzen vielen Tieren und Pflanzen schwer zu. Was die Meere angeht, holen wir zuviel raus, nämlich Fisch, und werfen zuviel rein, nämlich Müll und Nährstoffe. Zu all dem kommt der Klimawandel, der natürliche Lebensräume immer rascher verändert. Nur selten läuft die Zerstörung der Natur so spektakulär wie die Brände am Amazonas, sondern in der Regel geht es schleichend.
Wie gewaltig der ökologische Fußabdruck Europas ist, will ich Ihnen mit einigen Zahlen aus Deutschland verdeutlichen. Fast 7 Millionen Tonnen Soja importiert Deutschland für seine Massentierhaltung, und für deren Anbau brauchen wir fast 3 Millionen Hektar Fläche im Ausland, das entspricht einem Drittel der Fläche Österreichs, mehr als die Hälfte davon in Brasilien. Das war mal Regenwald. Nur deshalb schaffen wir es, 6 Millionen Tonnen Milchprodukte und fast 6 Millionen Tonnen Fleisch in alle Welt zu exportieren. Deutschland importiert jährlich 1 Mio Tonnen Palmöl, das zur Hälfte für Energiezwecke genutzt wird, also einfach verbrannt wird. Für die Produktion dieses Palmöls sind abermals grosse Flächen im Ausland nötig, etwa 300 000 Hektar meistens frühere Regenwaldfläche in Südostasien. Von unserem Holzverbrauch von 250 Mio Kubikmetern importieren wir die Hälfte, Sie sehen: schon wieder hoher Flächenverbrauch im Ausland. Wir beklagen die Überfischung der Meere, ja, und eine nennenswerte Fischereiflotte haben wir nicht mehr. Aber wir sind einer der wichtigsten Märkte für Fisch, 1.15 Millionen Tonnen ist der Jahresverbrauch, 14.4 kg pro Kopf. Nachhaltig wäre noch nicht mal die Hälfte davon. Ich bin sicher, Österreich hat pro Kopf vergleichbare Zahlen.
Bei so einer Wirtschaftsweise brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn die natürlichen Lebensgrundlagen daran zugrundegehen. Es ist ja keine Überraschung, wenn man die Landwirtschaft jahrzehntelang industrialisiert, mit einem Freihandelsabkommen nach dem anderen auf Weltmärkte und damit die globale Konkurrenz aller gegen alle trimmt, dass dann artenarme Agrarwüsten herauskommen. An den Ursachen für den massiven Rückgang der Biologischen Vielfalt ändert sich nur etwas, wenn wir unser Wirtschaftssystem ändern. Statt immer mehr zu verbrauchen und das als „Wirtschaftswachstum“ zu feiern, müssen wir lernen, die natürlichen Grenzen des Planeten Erde zu respektieren, und zwar bald. Der IPBES drückt es etwas umständlicher aus: „Die Ziele für den Schutz und die nachhaltige Nutzung der Natur können mit den gegenwärtigen Entwicklungsprojektionen nicht erreicht werden, und Ziele für 2030 und danach können nur durch transformativen Wandel über alle wirtschaftlichen, sozialen, politischen und technologischen Faktoren hinweg erreicht werden.“ Wissenschaftler müssen das wahrscheinlich so sagen. Eigentlich wissen wir das ja alles schon länger. Aber es hat einfach keine Konsequenzen.
Es gibt kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Handlungsdefizit.
1992 beim Erdgipfel in Rio, beschlossen die Vereinten Nationen die Konvention zum Schutz der Biologischen Vielfalt, und dann gab es Aktionspläne, Strategische Pläne, immer wieder neue Beschlüsse. Nur passiert ist nichts. 2001 beschloss der EU-Gipfel, den Rückgang der Biodiversität bis 2010 zu stoppen. 2002 beschlossen das auch die Staats- und Regierungschefs der ganzen Welt, beim Weltgipfel für Nachhaltige Entwicklung. Die Ziele wurden krachend verfehlt. Stattdessen beschleunigte sich der Rückgang der Artenvielfalt sogar noch. Als man das dann 2010 konstatieren musste, beschloss man bei der UN-Biodiversitätskonferenz in Nagoya neue Ziele, diesmal bis 2020, die sogenannten Aichi-Ziele. Nagoya liegt in der Präfektur Aichi. Diese Ziele bekräftigte die UN-Generalversammlung 2015 und nahm sie in die Nachhaltigkeitsziele, die sogenannten SDGs, mit auf. In einigen Wochen sind wir im Jahr 2020 und stellen fest: Auch diese Ziele werden überwiegend verfehlt, weil die Ursachen für das Artensterben nicht angegangen werden. In den meisten der Aichi-Zielen gibt es kaum, gar keine oder sogar negative Fortschritte. Besonders schlecht sind die Fortschritte in der Umsetzung einer nachhaltigen Nutzung von Ökosystemen v.a. in der Landwirtschaft, Überfischung und die Umweltverschmutzung hält weiter an. Gute Fortschritte bei der Zielerreichung werden lediglich bei den eher weichen Zielen gemeldet, die der Natur nicht so direkt was bringen, wie etwa „Bis spätestens 2020 sind sich die Menschen des Wertes der biologischen Vielfalt und der Schritte bewusst, die sie zu ihrer Erhaltung und nachhaltigen Nutzung unternehmen können“. Ich weiss gar nicht wie man so etwas messen will, oder „Bis 2015 haben alle Vertragsparteien wirksame, partizipative und aktualisierte nationale Biodiversitätsstrategien und Aktionspläne ausgearbeitet und als Politikinstrument verabschiedet und mit ihrer Umsetzung begonnen“. Die Fortschritte gab es beim Pläne schreiben, denn dafür sind die Umweltminister zuständig, aber nicht so wirklich bei ihrer Umsetzung, denn dafür sind überwiegend nicht mehr die Umweltminister zuständig. Bei den harten Zielen, die wirklich direkte Auswirkungen hätten, da sieht es leider düster aus, etwa beim Ziel 5: „Bis 2020 ist die Verlustrate aller natürlichen Lebensräume einschließlich Wäldern mindestens um die Hälfte und, soweit möglich, auf nahe Null reduziert und die Verschlechterung und Fragmentierung erheblich verringert.“
Zur Umsetzung der Aichi-Ziele verabschiedete auch die EU 2011 eine neue Biodiversitätsstrategie mit 6 Zielen, die bis 2020 erreicht werden sollten. Das Kernziel ist „Aufhalten des Verlustes an biologischer Vielfalt und der Verschlechterung der Ökosystemdienstleistungen bis 2020 und deren weitestmögliche Wiederherstellung bei gleichzeitiger Erhöhung des Beitrags der EU zur Verhinderung des Verlustes an biologischer Vielfalt weltweit“. Jedem dieser Ziele wurde ein Maßnahmenpaket zugeordnet. Ein Zwischenbericht der Kommission stellte 2015 fest, dass es leider kaum Fortschritte dabei gab, oder in manchen Bereichen wurden zwar Fortschritte erzielt, sie sind aber zu langsam um das Ziel zu erreichen. Das ist auch kein Wunder, weil man in wesentlichen Fragen eben nichts ändern will: die Landwirtschaftspolitik ist dieselbe, die Fischereipolitik, die Verkehrspolitik, und wenn man all das nicht ändern will, dann braucht man sich auch nicht zu wundern, dass man dieselben Ergebnisse bekommt.
Im Oktober 2020 soll die nächste UN-Biodiversitätskonferenz neue Ziele aufstellen, diesmal halt bis 2030, und so können wir dann weitermachen, wie bei Bertolt Brecht: ‘Ja, mach nur einen Plan! Sei nur ein großes Licht! und mach dann noch einen zweiten Plan, gehen tun sie beide nicht.’  Alle diese Ziele werden auch diesmal verfehlt werden, wenn nicht endlich die Ursachen angegangen werden.
Nun könnte man sagen, was solls – aber ohne natürliche Ökosysteme sind auch die menschlichen Lebensgrundlagen gefährdet. Das spüren auch diejenigen, denen Natur nichts bedeutet.
Die Biene ist systemrelevant
Die Biene ist systemrelevant, meine Damen und Herren, weil es ohne Bestäuber kein Obst gibt und die meisten anderen Pflanzen auch nicht, also steht dann die Welternährung auf dem Spiel. Von Hand kann man das Bestäuben nicht machen, auch wenn in einigen Regionen Chinas die Giftkonzentration in der Umwelt schon so hoch ist, dass man es dort mangels Bienen tatsächlich von Hand machen muss. Welch ein Aufwand. Aber die Politik hält nach wie vor nicht die Biene für systemrelevant und lässt weiter Pestizide zu, die die Biene umbringen, sondern sie hält die Deutsche Bank für systemrelevant, die die Finanzkrise 2008 mit ausgelöst hat und seitdem von einem Strafverfahren zum nächsten torkelt.
Der Regenwurm ist systemrelevant, weil er einer der wichtigsten Mitarbeiter jedes landwirtschaftlichen Betriebs ist und ohne ihn kaum noch Humus gebildet wird, aber dennoch lassen wir es zu, dass er mit Glyphosat und anderen Giften umgebracht wird. Aber für die Politik ist nicht der Regenwurm systemrelevant, sondern Bayer-Monsanto, der Hersteller des Glyphosats, ein Konzern, der gerade in den USA einen Prozess nach dem anderen verliert, weil seine Gifte nicht nur Regenwürmer umbringen, sondern leider auch Menschen. Die Übernahme von Monsanto durch Bayer hat die EZB durch ihre Anleihen-Aufkaufprogramme mitfinanziert.
Auch das Krill ist systemrelevant, jenes Kleingetier in den kalten Ozeanen, das die Basis fast allen Lebens in den Ozeanen ist und das allmählich auszusterben droht, wenn die Erwärmung und Versauerung und Vermüllung der Ozeane nicht bald gestoppt wird. Aber die Politik hält nicht das Krill für systemrelevant, sondern fossile Energiekonzerne, die Ursache der Erwärmung, denen man einen zu raschen Kohleausstieg nicht zumuten kann.
Der Amazonasurwald ist systemrelevant, weil er die grüne Lunge der Erde ist und ohne grosse Wälder das Klima endgültig kippt. Aber die Politik hält nicht den Amazonas für systemrelevant, sondern Amazon, und lässt zu, dass dieser Konzern praktisch weltweit keine Steuern zahlt.
Diese Liste könnte man noch fortsetzen. Eigentlich wissen das auch die Regierungen und die EU-Kommission. In ihrem bereits erwähnten Zwischenbericht von 2015 hat die Kommission einen der vielen Versuche unternommen, die sogenannten Ökosystem-Leistungen in Geld zu beziffern. Es gibt viele Leute, die diese Monetarisierung der Natur für ungefähr genauso pervers halten wie den Versuch, ein Menschenleben mit einem Geldwert zu beziffern. Ich zitiere jetzt einfach mal aus dem Bericht, ohne das moralisch zu bewerten: »Die Opportunitätskosten für den Fall, dass das Kernziel der EU-Biodiversitätsstrategie bis 2020 nicht erreicht wird, werden auf bis zu 50 Mrd. EUR pro Jahr geschätzt. Einer von sechs Arbeitsplätzen in der EU hängt in irgendeiner Form von der Natur ab. Allein der Wert von Insektenbestäubungsdiensten in der EU beläuft sich Schätzungen zufolge auf 15 Mrd. EUR pro Jahr. Mit ca. 5,8 Mrd. EUR werden die jährlichen Kosten für die Erhaltung des Natura-2000-Netzes der EU mehrfach durch den wirtschaftlichen Nutzen aufgewogen, den das Netz durch Dienste wie Kohlenstoffspeicherung, Hochwasserschutz, Wasserreinigung, Bestäubung und den Schutz der Fischbestände erzeugt und der sich auf 200-300 Mrd. EUR jährlich beläuft.« Soweit die Kommission. Sie stellt dann verklausuliert aber zutreffend selber fest: „Um die Ziele zu erreichen, müssen unterschiedliche Politikbereiche wirksam integriert werden, wozu einheitliche Prioritäten gesetzt und angemessene Mittel vorgesehen werden müssen  — insbesondere in den Sektoren Landwirtschaft und Forstwirtschaft, die zusammen 80 % der Flächennutzung in der EU ausmachen, sowie in den Sektoren Meeres-/Fischereiwirtschaft und regionale Entwicklung.“
Zeit für ein Ende der zerstörenden Geschäftsmodelle !
Ob man es nun integrieren nennt, oder „biodiversity meainstreaming“, am Ende müssen wir klar sagen worum es geht: wir müssen Schluss machen mit Geschäftsmodellen, die die Biodiversität und damit unsere natürlichen Lebensgrundlagen kaputtmachen. Solange man mit solchen Geschäftsmodellen Geld verdienen kann, wird das auch gemacht, und da müssen wir ran. Vor allem im Agrarbereich, aber nicht nur. Wir brauchen eine Landwirtschaft in der Region für die Region, nicht eine Agrarindustrie für Weltmärkte. Verschwendung muss einen Preis haben, Raubbau und Müllproduktion auch, und wir sollten nicht glauben, dass man das nur über den Markt regeln kann. Dafür muss reguliert werden. Der Schutz der Biodiversität kann nicht an das Umweltministerium wegdelegiert werden, dafür sind alle zuständig. Wenn wir mit dieser Wirtschaftsweise so weiter machen, wird auch das Ergebnis dasselbe sein, nur dass Ökosysteme sich irgendwann nicht mehr „nur“ verschlechtern sondern umkippen. Überall auf der Welt mahnen uns junge Menschen in diesen Tagen, den Raubbau an der Zukunft zu beenden. Das Artensterben ist unumkehrbar. Eine Art, die weg ist, ist weg. Irgendwann sind wir dann selber dran. Wir müssen nachfolgenden Generationen intakte Ökosysteme hinterlassen. Wir wissen was zu tun ist. Um das nun auch tatsächlich zu tun, müssen wir erhebliche Widerstände überwinden. Viele Leute machen eine Menge Geld mit der Zerstörung der Biodiversität. Das dürfen wir nicht länger zulassen.Liebe Freundinnen und Freunde, nichts ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.