Die Realität ist eine Fiktion – oder: wie machen wir eine Fiktion zur Realität?
Schon oft wurde das Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York mit einem Raumschiff verglichen. Vermutlich ist das unvermeidlich. Manchmal fällt es aber noch deutlicher auf als sonst. Das zweite High Level Political Forum on Sustainable Development (HLPF) vom 26.Juni-8.Juli war sicherlich ein solches Beispiel. »Strengthening integration, implementation and review—the HLPF after 2015« lautete der offizielle Titel der Tagung.
Zeitgleich mit dem Beginn des Ministerial Level Segments des HLPF am 6. Juli stürzt die EU in ihre bisher grösste Krise. Nach dem überwältigenden Nein des griechischen Volkes zur Austeritätspolitik der Brüsseler Troika und des IWF hätte man annehmen können, dass darauf eingegangen wird, wenn die Weltgemeinschaft über ihre Entwicklungsziele für die nächsten 15 Jahre diskutiert. Schliesslich handelt es sich dabei um eine Wirtschaftspolitik, die schon viele verschuldete Entwicklungsländer durchlaufen haben samt der bekannten Konsequenzen von Haushaltskürzungen, Rezession, Abbau öffentlicher Infrastruktur. Man hätte innehalten können und die Frage stellen können, hat diese Krise irgendetwas mit bisheriger Politik, mit den Entwicklungszielen für die nächsten 15 Jahre zu tun? Können wir mit unserer Politik einfach weitermachen?
Hätte, hätte, Fahrradkette. Im Raumschiff UN spielte diese Krise keine Rolle, sie wurde ausgeblendet. Wahrscheinlich ist das ein Zeichen von professioneller Diplomatie. Vielleicht ist diese Fähigkeit professioneller Diplomatie, solche Krisen auszublenden,  aber auch selbst ein Teil des Problems.
Dies betrifft auch die Zivilgesellschaft. Hätte sie auch nur eine Spur des Bisses und des unabhängigen Geistes, die sie früher mal hatte, hätte sie möglicherweise die zahlreichen Präsentationen der deutschen »Vorreiterrolle« hinterfragt und darauf hingewiesen, dass das deutsche Austeritätsdiktat in Südeuropa möglicherweise nicht als sonderlich nachhaltig empfunden werden könnte. Oder sie hätte Klartext geredet und mal ein paar Beispiele präsentiert, was in vielen Ländern alles getan werden müsste aber mangels politischen Willens eben nicht geschieht. Weit gefehlt. Viele der spärlich anwesenden nichtstaatlichen Vertreter waren aber vor allem darauf bedacht, einen 2-Minuten-Redeslot zu ergattern, in dem sie das sagten, was sie immer sagen: nämlich dass wahlweise Women, Youth, NGOs oder wer auch immer beteiligt werden müsse, partizipieren müsse, gehört werden müsse, mitreden können müsse – mit welchen Inhalten allerdings, das blieb meist völlig nebulös. Dabeisein ist alles…das olympische Prinzip hat Einzug gehalten.
Die Anlage der dreitägigen Sitzung war durchaus sinnvoll, sprachen die relevanten Fragen an und hätten Potential für gute Debatten gehabt in dreistündige Sitzungen mit eingeladenen Rednern, Panelisten zur Diskussion und anschliessender Plenardiskussion.
Themen waren
• Strengthening integration, implementation and review – the HLPF after 2015
• Thinking ahead – emerging issues that will matter in the future
• Communicating and implementing a universal agenda at home
• Our HLPF in the next 15 years
• Reviewing and monitoring progress
• Realizing the SDGS: Matching ambitions with commensurate means of implementation
Die Inputs der gesetzten und eingeladenen Redner und der Diskutanten für die interaktiven Diskussionen waren durchwachsen, da erfuhr man allerlei Interessantes und weniger Interessantes über das Gesetz über das »Well-being of Future Generations« aus Wales, die Vorbildfunktion der BMZ-Zukunftscharta aus Deutschland, dem Umgang der Republik Belize mit ihren natürlichen Ressourcen, die Bedeutung von Arbeitsplätzen für junge Menschen in Westafrika zur Verhinderung von Armutsmigration oder die Bedeutung der Kernfusion für Nachhaltige Entwicklung. Bei manchen Diskutanten fragt man sich, wie die eigentlich hierher kamen, wie etwa die Ex-Doktorin und Ex-MdEP Silvana Koch-Mehrin (jetzt: Founder and Chairperson, Women in Parliaments Global Forum), die wenig erhellendes dazu zu sagen hatte, wie Abgeordnete die SDGs sehen. Im einzelnen können die Diskussionen nachgelesen werden im Bericht des Earth Negotiation Bulletin.
Aber die interaktiven Diskussionen waren eben nur das eine. Sie verliefen meist nur zwischen den eingeladenen Experten und Panelisten, die jeweils für ihre Drei-Stunden-Session einflogen und danach verschwanden. Überhaupt »High Level«: hochrangig waren eigentlich nur einige der geladenen Panelisten, ansonsten blieb es in der Regel bei Vertretern (teilweise gar Praktikanten) der New Yorker Ständigen Vertretungen. Für ein sogenanntes „Ministerial Segment“ war die Besetzung absolut unangemessen. Die meisten dieser Diplomaten verlasen lieber vorbereitete Statements, manche mussten bei Rückfragen gar zugeben, sie hätten kein Mandat, irgendetwas anderes zu machen. Wer schickt solche Leute in eine »interaktive Diskussion«?
Wenn man in so einer HLPF-Sitzung die Abfolge relativ zeitloser Statements verfolgt, monologartig und meist lieblos vorgelesen und man nebenher im Smartphone die Neuigkeiten aus Europa, aus Griechenland, aus einer völlig anderen Realität verfolgt… man kommt kaum umhin, die Existenz zweier paralleler Universen zu konstatieren. Mich hätte schon mal interessiert, was beispielsweise die griechischen Vertreter zum Thema SDGs zu sagen gehabt hätten: wie kann man in einem Land, in dem das bisherige Wirtschafts- und Entwicklungsmodell derart krachend zusammenbricht, einen neuen – und im Gegensatz zum alten etwas nachhaltigeren – Kurs fahren? Oder was die deutsche Delegation darauf erwidert hätte, wenn sie gefragt würde, wie nachhaltig oder vorbildlich eigentlich ihre Politik gegenüber Griechenland ist? Oder was die nigerianischen Vertreter zu sagen hätten, wie ein Land vor dem Abgrund eines »failed state« steht und per demokratischer Wahl einen neuen Aufbruch schafft, und wie der nun aussieht und was der mit den SDGs zu tun hat. Nur um diese drei Beispiele zu nennen. Aber vermutlich sind die UN damit überfordert, solche realitätsnahen Diskussionen zu führen – und die UN-affiliated civil society auch.
Überhaupt Zivilgesellschaft: hier herrscht organisatorisch ziemliche Verwirrung. Aus Rio und der CSD hatte man sich an das Konzept der 9 »Major Groups« gewöhnt, darunter NGOs, Women, Youth, Trade Unions usw., die sich untereinander irgendwie (meist mehr schlecht als recht) koordinierten und ab und zu Positionspapiere verteilten oder Redewünsche an das Sekretariat einreichten. Diese Koordinationen sind zusammengebrochen, verschiedene Major Groups sind gar nicht mehr aufgetaucht. So reicht jetzt jede NGO oder auch NGI (Non-Governmental Individual) Redewünsche unkoordiniert ein, und das Sekretariat entscheidet wer drankommt. Hinzukommt dass in Rio 2012 auch noch die amorphe zusätzliche Gruppe der »Other Stakeholders« hinzuaddiert wurde. Darunter kann sich subsummieren wer will, von Behindertenverbänden über Migrantenvereinen bis zu Seniorenorganisationen, und ebenfalls das Mikrofon erbitten. So wird zivilgesellschaftliche Beteiligung zu einem ziemlich beliebigen und bedeutungslosen Ritual.
Erst am letzten Tag fand die im Programm aufgelistete morgendliche Koordinationssitzung der »Major Groups« tatsächlich statt, und auch der in grauer Vorzeit mal von irgendwem nominierte Koordinator der Zivilgesellschaft tauchte erstmals auf… in Habitus und Aussage erinnerte er mehr an einen UN-Pressesprecher als an einen ZivilgesellschaftsÂ-Koordinator. Irgendwelche Impulse brauchte man von ihm nicht zu erwarten.
Diese Schwäche der Zivilgesellschaft ausgerechnet an dem Punkt, an dem die relativ ausgeweitete Partizipationskultur der alten CSD und des Rio-Prozesses mit der weit restriktiveren des Ecosoc (Economic and Social Council) in der Hybridstruktur des HLPF zusammengeführt wird, hat Spuren hinterlassen. Zusammen mit der zielstrebigen Politik des österreichischen Ecosoc-Vorsitzenden Martin Sajdik seit Rio+20, möglichst wenig Innovation am Ecosoc zuzulassen, führt dies zu einer erheblichen Schwächung zivilgesellschaftlicher Beteiligung am HLPF verglichen mit der alten CSD. Weder quantitativ noch qualitativ hatte die Zivilgesellschaft beim HLPF-2 viel zu bieten, das Interesse ist offenbar zumindest in diesem Jahr schlicht nicht vorhanden. Selbst die kleine Gruppe der NGO-freundlichen Staaten beklagt dies allmählich. Institutionelles Gedächtnis ist in der Zivilgesellschaft ebenfalls kaum noch vorhanden. Die genauen Modalitäten der künftigen zivilgesellschaftlichen Beteiligung am HLPF befinden sich noch im Status »work in progress«.
Fazit: Das zweite HLPF war eine Platzhalter-Tagung, und so bleibt offen, welche Rolle das HLPF künftig spielen wird. Das HLPF tagte noch nicht in der normalen Verhandlungszusammensetzung, die FFD-Konferenz in Addis Abeba zog viel Aufmerksamkeit und Verhandlungskapazität ab, viel zu beschliessen gab es noch nicht. Insofern zögere ich etwas, das HLPF-2 als »Generalprobe« zu bezeichnen. Ob das Nachfolgegremium der CSD tatsächlich qualitativ besser wird, kann man verlässlich erst nach der ersten Sitzung sagen, in der es tatsächlich um die Umsetzung einer beschlossenen SDG-Agenda geht, also 2016. Insofern war es zumindest keine verpatzte Generalprobe. Optimismus oder gar Aufbruchstimmung kam bei dieser Sitzung allerdings nicht auf. In einer Zeit, in der multilaterale Zusammenarbeit zur Lösung gemeinsamer Probleme nirgendwo angesagt ist, sondern Konfrontation und Kalte-Kriegs-Rhetorik sich überall wieder breit machen, wäre das vielleicht sowieso zuviel verlangt.
Dennoch kann man die Grundkonstellation des ganzen SDG-Prozesses nach dieser Tagung bereits gut beobachten: Einige mögen daran arbeiten, die Post-2015-Fiktion zu einer geglaubten Realität zu verklären, um die Realität so zu lassen, wie sie ist. Das dürften wohl viele der Regierungen sein, die etwa beim letzten G20 ein Festival des business as usual, des Wirtschaftswachstums ganz alter Schule beschlossen haben – und dieses business as usual per Federstrich für nachhaltig erklären. Andere, vermutlich die Mehrzahl, arbeiten daran, ein bisschen an der Realität zu ändern, um dann sagen zu können, wir haben doch viel erreicht. Wieder andere arbeiten daran, die SDG-Fiktion zu realisieren, um die Realität zu verändern und nachhaltig zu machen. Voraussetzung für letzteres ist aber, erstmal die Unterschiede zwischen Fiktion und Realität illusionslos zu erkennen und zu benennen. Schon das ist eine Aufgabe, an der offenbar viele scheitern.
Von Jürgen Maier