Presseerklärung des Netzwerks deutscher Nichtregierungsorganisationen,
die zu Handelsthemen aktiv sind
Seattle,29.11.1999: “Tempo herausnehmen” aus dem WTO-Prozeß, dies ist die zentrale Forderung der deutschen Umwelt- und Entwicklungsorganisationen, die im Forum Umwelt und Entwicklung zusammenarbeiten. Die deutschen NRO sind mit einer Delegation von zehn Organisationen nach Seattle gekommen, um gegenüber der Bundesregierung, der EU und anderen NRO für ihre gemeinsamen Positionen zu werben.
Hauptanliegen der deutschen NRO ist die Forderung, daß die bestehenden Verträge der WTO und die Ergebnisse der Uruguay-Runde zunächst einer grundlegenden Bestandsaufnahme unterzogen werden müssen. Insbesondere die Auswirkungen auf Umwelt und soziale Entwicklung müssen sorgfältig untersucht werden. Die bestehenden Verträge weisen große Ungleichgewichte zu Lasten von Entwicklungsländern auf. Während in der Uruguay-Runde in den für Industrieländern interessanten neuen Themen (z.B. Dienstleistungen) substantielle Liberalisierungen durchgesetzt werden konnten, wurden gerade in den Handelsbereichen, die für ärmere Entwicklungsländer von Bedeutung sind, wie dem Agrar- oder dem Textilbereich, nur sehr unzureichende Zugeständnisse gemacht. Vor dem Beginn neuer umfassender Verhandlungen muß die WTO nach Ansicht der deutschen NRO zudem einer internen Strukturreform unterzogen werden, hin zu mehr Transparenz und Demokratie.
Die deutschen NRO sind über das Verhandlungsmandat der EU insgesamt sehr enttäuscht, da gerade in den für Entwicklungsländern wichtigen Fragen, wie dem Agrarbereich, von der EU kaum neue Angebote gemacht werden. Die EU verwendet inzwischen zwar eine Rhetorik, in der viele Anliegen von NRO aufgegriffen werden (Handel und Umwelt, Entwicklungsrunde etc.), in der Substanz allerdings konnte sich die EU kaum zu weiterreichenden und glaubhaften Angeboten an die Entwicklungsländer durchringen – sicherlich einer der Gründe, warum es bei der WTO schon im Vorfeld der Seattle-Konferenz zu Streitigkeiten kommt.
Die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der WTO vor Beginn der Ministerkonferenz sind so groß wie nie zuvor. Ein Tag vor Beginn ist noch nicht einmal eine Einigung über die Tagesordnung einer neuen Runde zustande gekommen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß der Beginn einer Verhandlungsrunde sogar bis nach den Präsidentschaftswahlen in den USA (Ende 2000) verschoben wird. Fest steht auf alle Fälle schon jetzt, daß es mit dem großen Wurf, einer “Jahrtausend-Runde”, wohl kaum etwas wird. Die WTO steckt in der Krise.
Die deutschen NRO werten die Krise als Ausdruck der Tatsache, daß Liberalisierung und Globalisierung weltweit auf immer größerer Skepsis stoßen. Insbesondere die Befürchtungen der Entwicklungsländer, daß ihre Interessen – wie schon bei der vorherigen Verhandlungsrunde – auch dieses Mal wieder zu kurz kommen könnten, sind vollauf berechtigt. Die meisten unter ihnen gehören zu den Verlierern der Globalisierung. Die Armutsschere zwischen Nord und Süd hat sich in den letzten zehn Jahren weiter geöffnet. Dennoch versuchen die EU und die USA mit der neuen Verhandlungsrunde in erster Linie nur ihre eigenen Interessen durchzusetzen.
Aber auch in den Industrieländern erkennen immer mehr Menschen, daß sich das Versprechen der Globalisierung, ein besseres Leben für alle zu bringen, nicht erfüllt hat. Unter diesen Bedingungen wäre ein Scheitern der Ministerkonferenz kein Beinbruch. Im Gegenteil, es gäbe die Chance für eine Denkpause. Statt einer weiteren Beschleunigung der Globalisierung muß jetzt überprüft werden, wieso in der Vergangenheit so vieles falsch gelaufen ist. Und es müssen die Konsequenzen daraus gezogen werden.
Die Ministerkonferenz in Seattle wird von massiven Protesten auf der Straße begleitet wie nie zuvor bei Verhandlungen zum Welthandel. Auch das NRO-Forum Umwelt & Entwicklung wird sich an Protestaktionen beteiligen.
Peter Wahl/Michael Windfuhr