Palastgespräche
Bericht von der Civil 20-Konferenz in Buenos Aires (6./7.8.2018) – Jürgen Maier
G20-Gipfel sind heutzutage nicht mehr unbedingt besonders populär in der Bevölkerung. Können Sie sich daran erinnern, dass ein solcher Gipfel etwas beschlossen hat, was Ihr Leben konkret verbessert hat? Nein? Wahrscheinlich ist Ihre erste Assoziation mit einem solchen Gipfel Unruhen und Krawalle.
Regierungen, die sich für die G20-Präsidentschaft und damit einen solchen Gipfel bewerben, tun dies weil sie sich einen Prestigegewinn versprechen. Dafür gibt aber das Kerngeschäft der G20, nämlich das Management des Weltfinanz- und Wirtschaftssystems, wenig her. Was in diesem Kerngeschäft beschlossen wird, ist für die Öffentlichkeit meist entweder unverständlich oder – wenn es verständlich ist – unpopulär. Im G20-Jargon nennt man das den „Finanzminister-Track“. Damit der erhoffte Prestigegewinn eintritt, braucht man also noch weitere Themen für einen G20-Gipfel. Dafür ist der sogenannte „Sherpa-Track“ zuständig. Dort kümmert man sich um Dinge, um die sich die Regierungen zwar in anderen internationalen Organisationen auch schon kümmern, also beispielsweise um das Klima, die Weltgesundheit, die Welternährung oder andere wichtige und leichter verständliche Dinge. Je konkreter die Ergebnisse im „Sherpa-Track“, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Öffentlichkeit eventuell unpopuläre Dinge im „Finanzminister-Track“ übersieht – zumal die Sitzungen des „Finanzminister-Tracks“ ohne den Pomp und die möglichen medienwirksamen Streits der Staatschefs auskommen. Sorgen aber Störenfriede wie Donald Trump dafür, dass unter den Staatschefs nichts Relevantes mehr beschlossen wird, könnten die Ergebnisse des „Finanzminister-Tracks“ vielleicht doch mehr Beachtung erlangen als üblich.
Genau das ist die Herausforderung für das Flaggschiffthema der diesjährigen argentinischen G20-Präsidentschaft, ein G20-Infrastrukturprogramm: »Mobilize private resources to reduce the infrastructure deficit«, so der offizielle Titel. Infrastrukturen aller Art sollen zu einer neuen »asset class«, einer offiziellen Anlagekategorie für Investoren werden: »Developing infrastructure as an asset class holds great promise to channel the savings of today into public infrastructure, efficient transportation services, basic sanitation, energy flows and digital connectivity that will make each person of today a global citizen and worker of tomorrow.« Im Zeitalter der Niedrig- und Negativzinsen suchen Hedgefonds, Versicherungen, Pensionsfonds und andere Anleger aller Art dringend neue Anlageformen. Auf 70-80 Billionen Dollar beziffert die Weltbank das Kapital, das weltweit auf der Suche nach profitablen Anlagemöglichkeiten ist – und auf 150 Billionen den weltweiten Investitionsbedarf in Infrastruktur, und das soll zusammengebracht werden. Dafür muss Infrastruktur profitabel werden, hohe und stabile und staatlich garantierte Renditen abwerfen. Diese Infrastrukturen, beispielsweise eine Brücke, stehen den Nutzern also nicht mehr kostenlos zur Verfügung. Sie sollen zu international handelbaren »Bonds« werden. Man kennt solche Modelle auch unter dem Stichwort »öffentlich-private Partnerschaft« (ÖPP). Das ist schon lange erklärte Politik vieler Regierungen; Deutschland etwa hat letztes Jahr mit den Stimmen aller Parteien das Grundgesetz geändert, um aus Bundesfernstrassen Anlageobjekte für Privatinvestoren zu machen.
Es ist noch nicht lange her, da war es selbstverständlich, dass solche Infrastrukturinvestitionen von der öffentlichen Hand getätigt wurden. Auch heute noch werden 85% der Investitionen in öffentliche Infrastruktur von der öffentlichen Hand getätigt – und an weiten Teilen der Infrastruktur haben private Investoren gar kein Interesse, da sie nicht profitträchtig gemacht werden kann. Aber wenn Regierungen in allen reichen Ländern 30 Jahre lang die Steuern für die Reichen und für die Konzerne immer wieder senken und ihnen immer neue Möglichkeiten der Steuervermeidung schaffen, ist es kein Wunder, dass überall die Staatskassen leer und die Staatsschulden hoch sind. Öffentliche Armut und privater Reichtum sind die gewollte Konsequenz dieser Politik ebenso wie immer maroder werdende Infrastruktur.
In so einer Situation kann man einräumen, dass der Neoliberalismus ein Irrweg ist, und man kann die Steuersätze von 1990 wieder einführen und Steuerschlupflöcher konsequent wieder schliessen. Dann schrumpfen die 70-80 Billionen herumvagabundierendes Kapital von alleine, und die Staatskassen werden wieder voller, und die öffentliche Hand kann in Infrastruktur investieren, ohne dass diese Renditen für global agierende Anleger abwerfen muss und damit die Reichen noch reicher und die Ungleichheit noch grösser macht.
Aber diese Alternative steht bei den Regierungen der G20 nicht auf der Tagesordnung, stattdessen soll eine Politik fortgesetzt werden, die bereits beim deutschen G20-Gipfel letztes Jahr unter dem Titel »Compact with Africa« beschlossen wurde: die weitere Privatisierung und Kommerzialisierung von Infrastruktur auch in Entwicklungsländern, mit Instrumenten wie genau den »öffentlich-privaten Partnerschaften« (ÖPPs). Die meisten Menschen empfinden das als Raubzug am öffentlichen Vermögen. Ãœberall dort, wo es zum öffentlichen Thema wird, kommt es Protesten und so gut wie jede Volksabstimmung über die Privatisierung und Kommerzialisierung von Wasserwerken, Krankenhäusern, Altenheimen usw. endet mit einer Ablehnung dieser Privatisierungspolitik. Voraussetzung für das Gelingen dieser Politik ist also, dass die kritische Zivilgesellschaft entweder nicht merkt oder versteht, was gespielt wird – oder meint, sie hätte Wichtigeres zu tun als das zu verhindern.
Argentinien, das diesjährige Gastgeberland des G20, hat in dieser Hinsicht mehr negative Erfahrungen gemacht als viele andere Länder. Privatisierungen der Post, der Aerolineas Argentinas, zahlreicher Wasserwerke, der Gas- und Stromwirtschaft wurden vielfach mit hohen Verlusten wieder rückgängig gemacht, weil die Investoren nur auf rasche Gewinne aus waren und Service und Investitionen vernachlässigten. Die massive Korruption, die weltweit bei vielen Infrastrukturinvestitionen im Spiel ist, übrigens durchaus auch bei öffentlichen, bestimmt zurzeit stark die Innenpolitik Argentiniens – erst kürzlich wurde der frühere Vizepräsident deshalb zu 5 Jahren Gefängnis verurteilt. Während die jetzige Regierung Macri wegen ihrer Austeritätspolitik, ihren Rentenkürzungen und ihrer Arbeitsmarktderegulierung im Fokus von Massenprotesten steht, ist die abgewählte Opposition unter anderem wegen ihrer exzessiven Korruption auch keine glaubwürdige parteipolitische Alternative.
In einem solchen – auch aus anderen Teilen der Welt nicht unbekannten – Umfeld fand am 6./7. August die Civil20-Konferenz statt, mittlerweile auch »summit« genannt, also Gipfeltreffen. »Civil 20« (C20)ist einer der sogenannten Outreach-Prozesse der G20, einem Dialog der G20-Regierungen mit der Wirtschaft (Business 20), den Gewerkschaften (Labour 20), Frauenorganisationen (Women 20) usw. Die beiden Veranstalterorganisationen waren Poder Ciudadano (der lokale Zweig von Transparency International) und Argentinische Netzwerk für Internationale Zusammenarbeit (RACI).
Um es gleich zu sagen: die beiden Veranstalter haben mit einem Minimal-Budget eine gelungene Veranstaltung auf die Beine gestellt, die die richtigen Themen auf die Agenda gesetzt hat, die richtigen Prioritäten gesetzt hat und die die richtige Balance an kritisch-konstruktivem Dialog mit der Regierung gefunden hat.
Schon der Veranstaltungsort war beeindruckend: der Palacio San MartÃn heisst nicht nur Palast, er ist auch ein Palast, früherer Sitz des Aussenministeriums, aus den Zeiten als Argentinien noch eines der reichsten Länder der Welt war und Aussenministerien noch nicht so viel Platz brauchten wie heute. Mit 400 Teilnehmern und hoher Medienpräsenz gab es gebührende Aufmerksamkeit. Bis wenige Tage vor der Konferenz blieb unklar, ob Präsident Macri wirklich zum C20 kommen würde – er tat es dann, hielt eine Rede mit dem Schwerpunkt Korruptionsbekämpfung, versprach den gläsernen Staat, und bekannte sich zur multilateralen Lösung gemeinsamer Probleme. Aber zu einem Podiumsgespräch wie Kanzlerin Merkel beim C20 im Hamburg 2017 war er nicht bereit. In einem Land, in dem nicht nur die Staatsmacht am liebsten mit denjenigen dialogisiert, mit denen man sowieso einer Meinung ist, und man Dialogen mit Andersdenkenden am liebsten aus dem Weg geht, war das wohl zuviel verlangt. Dieser Mangel an Dialog wurde allerdings mehr als wettgemacht durch die beiden »High Level Panels«, bei denen sich die argentinische Regierung dem demokratischen Dialog mit der internationalen Zivilgesellschaft stellte, nämlich einerseits zu den Themen des »Sherpa Track« und andererseits zu den Themen des »Finanzminister-Tracks«.
Diese Themen-Trennung erwies sich als ausgesprochen gelungener Schachzug. Bei der Diskussion der Themenvielfalt des Sherpa-Tracks mit dem stellvertretenden Aussenminister, wurde rasch deutlich:   Für viele der neuen Themen, die Präsidentschaften alljährlich setzen, fehlt der G20 sowieso jede Regelsetzungskompetenz, etwa Arbeitsplatzqualität im digitalen Zeitalter oder die Erhaltung der Bodenqualität. In vielen Diskussionsbeiträgen wurde das massive Implementierungsdefizit früherer G20-Kommuniqués beklagt, etwa beim Gender Action Plan, was in der Forderung mancher Teilnehmer mündete, die G20 solle doch erstmal gar keine weiteren Beschlüsse fassen oder keine neuen Themen aufmachen, bevor sie nicht die alten Beschlüsse umgesetzt hätten. Bei manchen dieser Beschlüsse muss man als Zivilgesellschaft allerdings durchaus auch froh sein, wenn sie nicht lückenlos umgesetzt werden…. Passend dazu kamen die Ankündigungen der kommenden japanischen Präsidentschaft mit wieder neuen Themen, etwa Katastrophenschutz. Letztlich sind G20-Kommuniqués nur unverbindliche Absichtserklärungen – aber man kann durchaus den Eindruck bekommen, dass die üppige Themenvielfalt auch die Funktion hat, dass die Öffentlichkeit nicht allzusehr auf die harten Themen des Finanzminister-Tracks schaut.
Das zweite Panel mit der Argentiniens Finanz-Sherpa Laura Jaitman konnte sich voll und ganz auf die Themen des Finanzminister-Tracks fokusieren, die sonst regelmässig in der öffentlichen Debatte zu kurz kommen: Ein erheblicher Teil des Anlagekapitals, das die G20 in Infrastruktur lenken wollen, wird über Steueroasen investiert werden. Infrastruktur wird zu einem handelbaren Investitionsobjekt, dessen Eigentümer im Ernstfall nur noch schwer zu identifizieren sind. Gibt es überhaupt eine Risikoanalyse, wenn man immer mehr Infrastruktur kommerzialisiert und privatisiert? Was geschieht mit denjenigen, die sich den Zugang zu einer kommerzialisierten Infrastruktur nicht leisten können? Diese Themen sind im Gegensatz zu denjenigen des »Sherpa-Tracks« diejenigen, bei denen konkrete Konsequenzen aus dem G20 zu erwarten sind – so wie auch 2017 der »Compact with Africa« durchaus reale konkrete Konsequenzen hatte, während sich an den publikumswirksamen Theaterdonner rund um die Trump-Eskapaden zu Klima oder Protektionismus heute kaum noch jemand erinnert. Es konnte kaum überraschen, dass Jaitman versicherte, allen Differenzen in anderen Themen zum Trotz sei es im Finanzminister-Track weiterhin möglich, zu einem Konsens zu kommen.
In den Diskussionen der Themenworkshops ging es immer wieder um die zunehmenden Restriktionen und Repressionen gegen die Zivilgesellschaft, gerade auch in G20-Ländern. Die Friedrich-Naumann-Stiftung war Mitveranstalterin des betreffenden Workshops; der FDP-MdB Ulrich Lechte hielt dort eine engagierte Rede. Auch die Institutionalisierung des C20-Prozesses war gerade den Argentiniern (und auch den anwesenden japanischen NGOs) ein wichtiges Anliegen, immer wieder wurde lobend herausgestellt, wie gut der deutsche C20 die argentinischen Nachfolger eingebunden hat. Das Civil 20 »Policy Pack«, also das Kommuniqué und die Statements der C20-Arbeitsgruppen, das Präsident Macri gleich zu Beginn der Konferenz übergeben wurde, war bereits im Vorfeld beschlossen worden, auf eine Plenarabstimmung wurde verzichtet.
Fazit: Grosse Anerkennung für die beiden argentinischen Veranstalter, die mit wenig Budget eine gelungene Veranstaltung auf die Beine gestellt haben. In Argentiniens spannungsgeladener Atmosphäre gelang es ihnen, einen kritischen Dialog auf die Beine zu stellen und die innenpolitische Agenda weder auszublenden noch alles überlagern zu lassen. Die Koordination des C20 und der nicht immer einfachen Themenvielfalt haben sie gut hinbekommen und ein qualitativ gutes politisches Forderungspaket erarbeitet. Mal sehen, was davon in der öffentlichen Wahrnehmung des G20-Gipfels selbst noch vorkommt – der findet ja erst Ende November statt.
Hier geht’s zum gesamten Communiqué.
Hier sind die Handlungsempfehlungen der C20 an die G20.