Vortrag von Jürgen Maier, Geschäftsführer des Forum Umwelt und Entwicklung, bei der Tagung „Welches Wachstum braucht die Welt? Die Wachstumslogik der Agenda 2030 auf dem Prüfstand“ der Evangelische Akademie Schwerte, 29.6.2018
America First. Mit dieser Politik erschreckt US-Präsident Trump zurzeit die Welt, und mit dieser Parole gewann er auch die Wahl. Germany First, Deutschland zuerst, das ist hier nicht offizielle Regierungspolitik, wird aber zunehmend in anderen Ländern, vor allem unseren europäischen Nachbarländern, so wahrgenommen. Seit der Finanzkrise 2010 sind eine Reihe südeuropäischer Staaten, nicht nur Griechenland, faktisch bankrott, und das Austeritätsregime zwingt sie immer weiter in eine Abwärtsspirale hinein. Mit dem Widerstand gegen die Achse Berlin-Brüssel, die man nicht zu Unrecht für dieses Austeritätsregime verantwortlich macht, gewinnt man heute Wahlen nicht nur in Italien oder Griechenland, selbst in Frankreich oder Polen ziehen solche Programme viele Wähler. Reden Sie mit Menschen in unseren Nachbarländern, und sie merken: Die deutsche Dominanz in der EU, die deutsche Hegemonie in der Eurozone, wird wahrgenommen – und immer mehr Menschen empfinden sie auch als den Versuch, mit Geld das zu erreichen, was man mit zwei Weltkriegen nicht geschafft hat.
Das ist eine besorgniserregende Entwicklung. In der deutschen Politik gab es jahrzehntelang, bis zum Ende der Bonner Republik, einen parteiübergreifenden Konsens: Dass unsere Nachbarn wieder Angst vor deutschen Hegemonial-Ambitionen bekommen, so etwas darf auf keinen Fall passieren. Es ist aber passiert, und in der Berliner Republik nimmt man es noch nicht einmal zur Kenntnis, geschweige denn ernst – und das ist keineswegs auf die Politik beschränkt, für die Medien gilt das genauso.
Deutschland ist wirtschaftlich erfolgreich, soweit man das von ganzen Ländern überhaupt behaupten kann. Die meisten Menschen erleben es so, aber viele andere auch nicht. Anzeichen für wirtschaftlichen Erfolg sind in der Regel eine Reihe von Zahlen, Bruttoinlandsprodukt, Arbeitslosenquote, und eben auch die Handelsbilanz. Der deutsche Handelsbilanz-Ãœberschuss liegt bei der Rekordhöhe von über 300 Mrd Dollar – mehr als die weitaus bevölkerungsreicheren Staaten China (260 Mrd) oder Japan (170 Mrd). Umgerechnet auf alle Einwohner Deutschlands (vom Säugling bis zum Greis) sind das pro Kopf 3875 Dollar, über 3000 Euro, die Sie und ich statistisch mehr exportieren als importieren. Ein einsamer Weltrekord – der Wert für China liegt bei gerade einmal 190 Dollar.
Dieser Überschuss entspricht 8.9% des BIP, eine seit Jahren wachsende Zahl. Die EU-Kommission stuft bereits Werte von dauerhaft mehr als sechs Prozent als stabilitätsgefährdend ein. Deutschland liegt seit 10 Jahren ununterbrochen darüber. Die Kommission rügt die Bundesregierung daher regelmäßig und empfiehlt, mehr zu investieren und so die Nachfrage im Inland zu stärken. Konsequenzen: Keine.
Jetzt können Sie fragen, was ist denn daran so schlimm, wenn man Exportüberschüsse hat, das ist doch gut. Sicher ist jedenfalls, die Exportüberschüsse des einen Landes sind immer und zwangsläufig die Handelsbilanzdefizite woanders, denn die Erde insgesamt handelt nicht mit dem Mond. Die Summe der Netto-Handelsbilanzen aller Länder kann immer nur Null sein. Sicher ist auch, man kann nicht dauerhaft mehr ausgeben als man einnimmt, also geht chronischen Defizitländern irgendwann das Geld aus und dann können sie den Überschussländern auch nichts mehr abkaufen, so dass deren Überschüsse deshalb auch irgendwann zusammenschrumpfen müssen.
Dieses Ungleichgewicht verursacht längst enorme weltwirtschaftliche Probleme. Außerhalb Deutschlands wird dies offen diskutiert. Das US-Finanzministerium prangerte schon unter Obama die deutschen Überschüsse sogar als Risiko für die weltweite Finanzstabilität an. Das Hauptargument lautet: Länder mit hohen Überschüssen tragen dazu bei, dass andere Staaten sich hoch verschulden, um ihre Importe zu finanzieren. In Deutschland findet diese Diskussion erst statt, seit Trump mit Strafzöllen nicht nur droht, sondern sie sogar verhängt.
Dennoch: Die Steigerung der Exportüberschüsse ist und bleibt unbestrittene Staatsdoktrin, denn das ist genau das Ziel der etwa 20 weiteren Freihandelsabkommen mit allen möglichen Ländern, die die EU noch in der Pipeline hat, maßgeblich auf deutsches Betreiben. Soweit wir das wissen, und wir wissen beileibe nicht alles angesichts der hartnäckigen Geheimniskrämerei in der Handelspolitik, geht es bei diesen Abkommen im Prinzip immer wieder um all das, was sie bei TTIP schon versucht haben: noch mehr Marktöffnung vor allem in den Agrar- und Dienstleistungsmärkten, Regulierung im öffentlichen Interesse erschweren, weil das ja ein »Handelshemmnis« ist, Kommerzialisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge, eine Paralleljustiz für Konzerne. Also Globalisierung wie gehabt, weiter so, ohne Rücksicht auf Verluste, auch wenn die Risiken und Nebenwirkungen dieser Globalisierungspolitik inzwischen an jedem Wahlergebnis ablesbar sind.
Längst untergräbt der deutsche Exporterfolg seine eigenen Grundlagen. Innerhalb der EU kann selbst Frankreich immer weniger mit der deutschen Exportmaschine mithalten. Die Gemeinschaftswährung Euro führt zu einer systematisch unterbewerteten Währung in Deutschland – eine Grundlage der extremen Exporterfolge – und einer systematisch überbewerteten Währung in Frankreich und Südeuropa. Niemand hat von der Gemeinschaftswährung Euro so sehr profitiert wie die deutsche Wirtschaft, egal was Ihnen die Amateurökonomen der AfD erzählen. Mit der D-Mark ginge es Deutschland wie der Schweiz: immer wenn die Exportüberschüsse zu hoch werden, wertet die Währung soweit auf, dass die Wettbewerbsfähigkeit wieder sinkt und die Exportüberschüsse damit auch. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Eurozonen-Länder driftet heute immer weiter auseinander. Die Zweifel wachsen, wie lange die Gemeinschaftswährung Euro eine derart auseinanderstrebende Wirtschaft in der Eurozone noch aushalten kann. Frankreichs wirtschaftliche Schwäche und die sinkende Kaufkraft wachsender Bevölkerungsanteile führte 2015 erstmals dazu, dass das Land auf Platz 2 der Rangliste der deutschen Handelspartner abrutschte, hinter die USA.
Das Rezept deutscher Finanzminister, Frankreich und die die südeuropäischen Euroländer müssten eben mit mehr „Reformen“ à la allemande, sprich Austerität und Lohnzurückhaltung wettbewerbsfähiger werden, ist nichts anderes als der Vorschlag eines Wettlaufs nach unten. Denn würden sie genau das tun, dann müssten wir es auch wieder tun, sonst hätten wir ja nun einen Wettbewerbsnachteil. Dass Lohn- und Sozialdumping die Wettbewerbsfähigkeit erhöht, ist nicht zu leugnen – es gehört zu den Troika-Auflagen für die Euro-Krisenländer. Dieser Wettlauf nach unten ist das Gegenteil von Nachhaltigkeit. Was hat DE in anderen Ländern angerichtet mit dieser Politik? Bundestag und Bundesregierung haben angeblich GR gerettet aber doch nur die Deutsche Bank gerettet, mit der Folge dass GR in grossem Stil verarmt ist, dass jeder 3. keine Krankenversicherung mehr hat, dass die Renten längst unter dem Armutslevel sind, dass die Säuglingssterblichkeit explodiert ist, und die Jugendarbeitslosigkeit auf atemberaubendem Niveau ist. Aber die Deutsche Bank ist ja gerettet, das ist wichtiger. Wievielen Millionen Menschen hat das Austeritätsregime von Berlin und Brüssel die Lebensperspektiven zerstört?
Auch die binnenwirtschaftlichen Grundlagen unserer extremen Exporterfolge geraten unter Druck. Maßgebliche Ursache für die hohe Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ist eine systematische Kostensenkungspolitik: Vor allem das gemessen am Rest Europas ausgeprägte Lohndumping führt zu einer Spaltung der Gesellschaft. Seit Einführung des Euro ist das Reallohnniveau in der Eurozone in Deutschland mit am langsamsten gestiegen. Ein Drittel der Menschen sind mittlerweile wirtschaftlich abgehängt in einem politisch gewollten „Niedriglohnsektor“ und bilden den Nährboden für Protestbewegungen aller Art. Jahrzehntelang waren die Eliten der Bundesrepublik Deutschland davon überzeugt, dass die Exporterfolge des Wirtschaftswunderstaats die Grundlage für den Wohlstand seien. Diese Gleichung funktioniert so nicht mehr. Der Preis, der für die Exporterfolge zu bezahlen ist, übersteigt zunehmend den Nutzen. Die Zurichtung ganzer Gesellschaften auf „globale Wettbewerbsfähigkeit“ zerstört den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Nicht nur für den Rest der Welt, für den südlicheren Teil der EU, sondern auch für uns selbst wäre es vermutlich nicht schlecht, wenn die Deutschen mal ein bisschen weniger wettbewerbsfähig wären und beispielsweise mal einen kräftigen Reallohnzuwachs vorweisen könnten. Wenn die Risiken einer extremen Weltmarktabhängigkeit immer grösser werden, kann es nicht schaden, wieder mehr auf regionale statt globale Wertschöpfungskreisläufe zu setzen. Nachhaltiger wäre es allemal.
Man muss, glaube ich, diesen Hintergrund voranstellen, wenn man sich nun dem Bild vom Nachhaltigkeits-Vorreiter, vom Klimaschutz-Vorreiter DE zuwendet. Woanders in der Welt ist dieser Hintergrund durchaus stärker präsent als hier bei uns im eigenen Land. Dass ein Exportweltmeister einen ziemlich grossen ökologischen Fussabdruck hat, kann eigentlich nicht verwundern. Für so etwas gibt es einen interessanten Massstab, nämlich den sogenannten „Overshoot Day“, das ist so ein Begriff den man kaum ins Deutsche übersetzen kann. Es ist der Tag, an dem wir im Kalenderjahr die regenerierbaren natürlichen Ressourcen aufgebraucht haben und auf Pump leben, Raubbau betreiben. Für die ganze Welt liegt er inzwischen am 2.August, für Deutschland bereits am 2.Mai. Vor 50 Jahren lag dieser Termin noch Ende November.
Viele Leute glauben ja auch, dass man so reich sein muss, um sich eine teure Umweltpolitik überhaupt leisten zu können. In der Tat: Nicht jedes Land ist so reich, dass es sich den Luxus leisten kann, gleichzeitig Weltmeister im Subventionieren von Kohle und Erneuerbaren Energien zu sein. Aus der Atomkraft sind auch schon andere Länder ausgestiegen, oder gar nicht erst eingestiegen, oft genug, weil sie ihnen schlicht zu teuer war. Aber nun zu unserer energiepolitischen Meisterleistung: der weltweite Boom der erneuerbaren Energien wurde massgeblich ausgelöst durch das deutsche EEG. Dieses Gesetz hat die Massen-Nachfrage geschaffen, die zur Massen-Produktion von Solarzellen und Windrädern geführt hat, und damit ihren rapiden Kostenrückgang bewirkt hat. Ironischerweise hat die Entwicklung zur Massenproduktion dazu geführt, dass Solarzellen heute wie andere derartige Massenprodukte überwiegend in Asien gefertigt werden und damit die Arbeitsplätze in der deutschen Solarbranche nicht mehr in der Produktion, sondern in Installation, Wartung und anderen Dienstleistungen geschaffen werden.
Ja, die Energiewende ist eine Erfolgsstory, auch wenn die Regierung sie heute ständig verlangsamt, und sie ist es eben auch, weil sie in einem Industrieland vom Kaliber Deutschlands stattfindet, das hat eben einen ganz andere Bedeutung als wenn es in einem kleinen Land stattfindet. Natürlich ärgert es auch viele, etwa wenn die Deutschen ihren häufig überschüssigen Strom in die europäischen Nachbar-Stromnetze drängen, wir sind jetzt also auch Stromexport-Europameister,  und so manchem Kohleverstromer dort die Preise verderben, manchmal freut es sie aber auch, wenn etwa die Franzosen in heißen Sommern nicht mehr genug Kühlwasser für ihre AKWs haben, aber damit können wir leben.
Aber um Nachhaltigkeitsvorreiter zu sein, ist es nicht damit getan, die Erneuerbaren Energien auszubauen. Die Deutschen verbrauchen 16.2 Tonnen Rohstoffe pro Kopf und Jahr, das sind 44 kg am Tag, Tendenz steigend – doppelt so viel wie der Welt-Durchschnitt.[1] Dieses Verbrauchsmuster setzen wir mit der Energiewende, den Elektroautos, der Digitalisierung und all den HiTec-Infrastrukturen nahtlos fort: von der Weltproduktion von Lithium von knapp 200 000 Tonnen geht ein Fünftel nach Europa, das meiste nach DE. Unser Müllaufkommen liegt bei über 220 kg pro Kopf und Jahr, Tendenz auch steigend, vor 10 Jahren waren es noch 190 kg. Wir mögen Europameister in der Mülltrennung sein, aber leider sind wir auch Europameister in der Müllproduktion: niemand produziert so viel Müll wie wir. Wir sammeln auch viel Altpapier, mehr als andere Länder, aber wir verbrauchen auch mehr Papier als andere. Merkwürdigerweise liegt Frankreich konstant bei etwa 60% des deutschen Papierverbrauchs. Wenn er steigt, steigt er in beiden Ländern, wenn er sinkt auch – aber warum die Franzosen bei einem doch recht ähnlichen Lebensstil mit 60% unseres Papierverbrauchs klarkommen, also mit 140 statt 252 kg pro Kopf und Jahr konnte mir noch niemand erklären.
Ein grosses Sorgenkind ist die Landwirtschaft, die Agrar- und Ernährungsindustrie in DE. Das liegt nicht an den Verbrauchern, die haben inzwischen ein erheblich gestiegenes Bewusstsein für gesunde und auch nachhaltige Ernährung. Ganz anders die Politik. Das Sterben der bäuerlichen Landwirtschaft hat sich beschleunigt, mit jedem Freihandelsabkommen: je mehr Weltmarktorientierung, desto mehr Agrarindustrie. Fast 7 Millionen Tonnen Soja importiert Deutschland für seine Massentierhaltung, und dafür brauchen wir fast 3 Millionen Hektar Fläche im Ausland, mehr als die Hälfte davon in Brasilien. Das war mal Regenwald. Nur deshalb schaffen wir es, 6 Millionen Tonnen Milchprodukte und fast 6 Millionen Tonnen Fleisch in alle Welt zu exportieren, meist zu sehr günstigen Preisen. Zu günstig für viele Bauern woanders, zu niedrig auch für immer mehr deutsche und europäische Bauern. Die deutsche Agrarwirtschaft ist mit ihren Billig-Exporten nicht nur ein Riesenproblem für Kleinbauern in Afrika, wo sie längst eine Migrationsursache geworden ist. Selbst in der EU ist die deutsche Agrarwirtschaft, mit voller Rückendeckung der deutschen Politik, zu einem absoluten Nachhaltigkeitsbremser geworden. Nach jahrzehntelangem Verstoss gegen die EU-Nitratrichtlinie werden wohl jetzt bald Strafzahlungen fällig, weil unser weit überzogener Tierbestand eine Problemlösung überhaupt nicht zulässt: 27 Mio Schweine, 12 Mio Rinder, 164 Mio Hühner. Der Inlands-Fleischverbrauch sinkt inzwischen, die Produktion nicht: es wird eben mehr exportiert. Auch die Billig-Mentalität wird zunehmend exportiert, Frankreichs Bauern machen inzwischen schon ab und zu Blockaden an der Kehler Rheinbrücke gegen Lidl-Lastwagen. Die Zustände auf deutschen Schlachthöfen sind so haarsträubend, und zwar nicht nur für das Schlachtvieh sondern auch für die dort Beschäftigten, dass Schlachthöfe in unseren Nachbarländern massive Verluste beklagen müssen, weil der Schlachttourismus nach Deutschland enorme Ausmasse angenommen hat. Nirgendwo schlachtet es sich so billig wie in Deutschland.
Aber es geht nicht nur um die Tierhaltung. Noch ein paar Zahlen mehr: Deutschland importiert jährlich 1 Mio Tonnen Palmöl, das zur Hälfte für Energiezwecke genutzt wird, also einfach verbrannt wird. Für die Produktion dieses Palmöls sind abermals grosse Flächen im Ausland nötig, etwa 300 000 Hektar meistens frühere Regenwaldfläche in Südostasien. Von unserem Holzverbrauch von 250 Mio Kubikmetern importieren wir die Hälfte, Sie sehen: schon wieder hoher Flächenverbrauch im Ausland. Was wir mit dem Holz machen, ist zu weiten Teilen alles andere als nachhaltig: zum Beispiel werden in Deutschland Jahr für Jahr 90 Mio Paletten verbraucht, die allermeisten davon – Einweg.
Wir beklagen die Überfischung der Meere, ja, und eine nennenswerte Fischereiflotte haben wir nicht mehr. Aber wir sind einer der wichtigsten Märkte für Fisch, 1.15 Millionen Tonnen ist der Jahresverbrauch, 14.4 kg pro Kopf. Nachhaltig wäre noch nicht mal die Hälfte davon.
Man könnte noch viele weitere solche Zahlen aufzählen, etwa über den Verkehr und die Autoindustrie, die gehören zu den ganz grossen Problembereichen deutscher Nachhaltigkeitspolitik. Sie sehen: bei näherem Hinsehen bleibt vom Nachhaltigkeitsvorreiter Deutschland nicht viel übrig, in letzter Zeit erlahmt sogar der Ehrgeiz etwas zu tun, immer stärker wird Deutschland zum Bremser. Wir zehren von den Erfolgen der Vergangenheit. Die Zeiten, in denen ein deutscher Bundeskanzler eine einseitige Reduktion der Treibhausgasemissionen von 25% verspricht, ganz ohne internationales Abkommen, wie Helmut Kohl in Rio 1992, die sind vorbei. Schon lange.
Wir müssen umsteuern. Aber Deutschland steht wie kaum ein anderes Land heute für weiter so, für eine neoliberal geprägte Globalisierung wie wir sie kennen und wie sie zuviele Verlierer und zuwenige Gewinner produziert. Kaum eine Volkswirtschaft profitiert davon so sehr wie die deutsche, und deshalb ist die deutsche Politik in Sachen Handelsverträge, in Sachen Eurozone so reformresistent. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass Sie und ich davon profitieren. Es kann nicht darum gehen, unseren überdimensionierten ökologischen Fussabdruck beizubehalten, unsere Exportrekorde weiter zu steigern und auf dieser Basis Hi-Tec-Umweltschutz zu machen.
Wir brauchen ein neues Gleichgewicht zwischen regionalen und globalen Märkten, wir müssen die ökologischen Grenzen des Planeten Erde respektieren, und deshalb muss unser Verbrauch in vielerlei Hinsicht schrumpfen. Klar ist aber, dass eine dringend notwendige ökologische sogenannte Transformation nur dann stattfinden wird, wenn sie von den meisten als fair empfunden wird, und auch als Beitrag zur Lösung der wachsenden sozialen Probleme empfunden wird. Und das heisst, die Kosten dafür müssen im Wesentlichen bei denen landen, die die letzten 20 Jahre reicher geworden sind, und nicht bei denen, die in den letzten 20 Jahren ärmer geworden sind oder die seit 20 Jahren keine Reallohnsteigerung mehr haben. Das muss glasklar sein. Da kann man nicht einfach Benzinpreise erhöhen, Zuckersteuern einführen, das Essen teurer machen, Mieten nach einer Wärmedämmung erhöhen und so weiter, und ansonsten glauben, das trifft ja alle gleich. Das tut es nämlich nicht.
So ein Projekt funktioniert nur, wenn damit eine auseinanderdriftende Gesellschaft wieder zusammenkommt. Es muss die Botschaft für alle transportieren: Du bist wieder systemrelevant, nicht reiche Anleger und Investoren. Dann kann das ein Erfolgsprojekt werden, dem sich rasch auch alle politischen Opportunisten anschliessen werden – und das die Rattenfänger ohne Publikum zurücklassen wird.
Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit gehören zusammen, sie sind die Grundlage jeder zukunftsfähigen Wirtschaftsordnung, sie sind das Leitmotiv jeder demokratischen Alternative zum diskreditierten neoliberalen Projekt der letzten Jahrzehnte. Holen wir sie aus der Nische, raus aus dem Gutmenschen-Elfenbeinturm, stürzen wir uns rein ins Getümmel. Entweder die Nachhaltigkeitsbewegung gibt Antworten auf die realen Probleme der Menschen, oder wir diskutieren noch 20 Jahre dasselbe – und das können wir uns nicht leisten.
[1] Lt. UBA, Berliner Zeitung 211116