Ausnahmezustand, Ausgangssperre, Tränengas, brennende M üllcontainer – die Bilder aus Seattle gingen um die Welt. Auch wenn sich gerade in den USA der Unmut über die WTO und andere Freihandelsabkommen wie die NAFTA schon seit lä ngerem aufgestaut hatte, mit einer solchen Wucht an Protesten hatte niemand gerechnet, nicht einmal die Protestierenden selbst. Die WTO-Ministerkonferenz konnte nur mit erheblicher Versp ätung beginnen. Am Ende musste sie ohne Ergebnis beendet werden. Die anvisierte Milenniumsrunde war vorerst gescheitert. Gescheitert ist sie allerdings vorwiegend an den unvereinbaren Interessengegens ätzen innerhalb der WTO -Mitgliedsstaaten, die von den Protesten nur noch zugespitzt wurden. Die politische Landschaft hat sich in den wenigen Jahren seit Gr ündung der WTO radikal ge ändert. Der Abschluss der Uruguay -Runde und die Abkommen zur Gründung der WTO 1994 wurde von der Öffentlichkeit noch mehr oder weniger ignoriert und im Bundestag durchgewunken, ohne dass mehr als eine Handvoll Abgeordnete ansatzweise verstand, was sie da ratifizierte. Die erste Ministerkonferenz vor 3 Jahren in Singapur fand noch im Elfenbeinturm unter weitestgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Allmählich beginnt die Öffentlichkeit zu begreifen, auf was sich die Regierungen mit der WTO eingelassen haben, welch weitreichender Demokratieabbau hier beschlossen wurde. Wie kann es sein, dass der demokratische Wille von 15 EU – Nationen, keine Wachstumshormone f ür Rindfleisch zuzulassen, von drei nicht gewählten WTO-Schiedsrichtern in einem nicht öffentlichem Verfahren annulliert wird? Bisher sind in allen Verfahren vor den WTO-Schiedsgerichten Umwelt – und Verbraucherinteressen, beschlossen von demokratisch gewählten Parlamenten, von den WTO -Funktion ären als “Handelshemmnisse” bezeichnet und annulliert worden. Mit nachhaltiger Entwicklung hat dies nichts zu tun. Die WTO in ihrer jetzigen Verfassung ist zu einseitig einem “Freihandel ü ber alles” verpflichtet, dass sie in dieser Form keinen Bestand haben kann. Der Reformbedarf ist un übersehbar: Wenn die WTO intellektuelle Eigentumsrechte schützen kann, dann kann sie auch die Schutzrechte der Umwelt und der Verbraucher sch ützen. Wenn die WTO Patente schützen kann, kann sie auch die Ern ährungssicherheit schützen. Auch Patente sind schließlich monopolistische Handelshemmnisse, im Interesse von Innovationsanreizen. Wenn die WTO Hollywoodfilme sch ützen kann, kann sie auch Mindestrechte von Arbeitern sch ützen. Das Unbehagen mit der Schieflage der WTO-Verträ ge beginnt auch auf die Regierungen überzugreifen. Wenn US -Pr äsident Clinton die Strassenschlachten von Seattle als “rather interesting hoopla” bezeichnet und hinzuf ügt “I disagree with a lot of what they say, but I’m glad they’re here, because they count in this debate”, dann spricht das B ände. Doch die Widersprüche und Interessensgegens ä tze der WTO ziehen sich bis tief in das Lager der Kritiker und Gegner der WTO. In Seattle demonstrierten US – Gewerkschaften für Mindest-Sozialstandards – ein Ziel, f ür das auch die USA und die EU, vor allem die Bundesregierung eintraten, gegen den erkl ä rten Widerstand der Entwicklungsl änder. W ährend etwa die deutschen Umwelt – und Entwicklungsorganisationen verbesserten Marktzugang f ür Entwicklungsländer fordern, gibt es andere WTO-Kritiker und Globalisierungsgegner, die zwar nichts gegen eigene Exportüberschüsse haben, aber genau diesen verbesserten Marktzugang für Entwicklungsländer heftig bek ämpfen. Ein zentrales Hindernis f ür die Milenniumsrunde sind auch die Agrarsubventionen der EU und Japans. Die Forderung nach ihrem Abbau oder ihrer Abschaffung eint die USA und die Entwicklungsl ä nder. Auch nach unserer Meinung m üssen viele davon gestrichen werden, insbesondere die Exportsubventionen. Viele der agrarischen WTO-Gegner in Europa gehen aber auf die Straße, um genau das zu verhindern. Seattle war wohl auch das definitive Ende der Geheimdiplomatie der Industrieländer, die es bisher noch immer verstanden hatten, in informellen Runden vollendete Tatsachen auszuhandeln, die die gro ße Mehrheit der Entwicklungsländer nur noch schlucken konnte. Doch gleichzeitig wird die von den NRO geforderte Öffnung der WTO f ür die Zivilgesellschaft insbesondere von wichtigen Entwicklungsländern am heftigsten bek ämpft. Widersprüche gibt es also genug. Wie weiter? Es w ä re weltfremd zu glauben, die WTO in Genf k önne nun ihre aus der Uruguay-Runde verbliebene Tagesordnung über Landwirtschaft und Dienstleistungen abarbeiten und einen neuen Anlauf f ür eine “gro ße Runde” nach den US -Prä sidentschaftswahlen machen. In Seattle wurde unmissverständlich deutlich, dass in einem demokratischen Prozess nun alle Interessen, die bisher dem Freihandel untergeordnet wurden, angemessen berücksichtigt werden mü ssen. Der Welthandel braucht multilaterale Regeln, wenn sich nicht das Recht des St ärkeren durchsetzen soll. In diesem Sinne braucht er eine Welthandelsorganisation. Aber deren Regeln m üssen auch die Umwelt, die Ernährungssicherheit, den Verbraucherschutz, soziale Mindeststandards und andere Werte vor den zerst örerischen Folgen nicht -nachhaltigen Wirtschaftens schützen und den Auftrag der Agenda 21 einl ö sen, nämlich das Umsteuern zu einer nachhaltigen Form von Entwicklung, die nicht ihre eigenen Grundlagen zerstö rt. Das heißt im Klartext: Nicht das Verbot von Hormonen im Rindfleisch, sondern die Hormone selbst sind das Handelshemmnis f ür dieses Fleisch. Die Politik ist nun aufgerufen, die Konstruktionsfehler der WTO-Verträ ge gründlich zu analysieren und zu beheben. Das ist die Lektion von Seattle. Wird sie ignoriert, war Seattle wohl nur der Anfang vom Ende der WTO.
Jürgen Maier
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