1 Was hast du eigentlich im Juni 1992 gemacht als der sogenannte Erdgipfel in Rio tagte? Wann und in welchem Zusammenhang hast du das erste Mal von der Rio-Konferenz gehört?
Bei Gipfel 1992 war ich natürlich noch sehr jung. Trotzdem war die Zeit für meine Familie sehr wichtig, da wir aus der ehemaligen DDR kommen und Anfang der 1990er natürlich für alle eine neue aber auch sehr unsichere Zeit war. Wie viele andere sind wir beispielsweise bald darauf aufgrund von Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt nach Westdeutschland gezogen. Wie es der Zufall will gerade ins Wendland – und die Anti-Atombewegung hat mich dann natürlich auch geprägt.
Vom Rio-Prozess selber habe ich lange eher indirekt mitbekommen. Ich habe Sinologie und Ostasienwissenschaften studiert und dort ging es beispielsweise um die Rolle Chinas beim Kyoto-Abkommen. Beim Rio+20-Gipfel wiederum war das ganz anders. Ich habe damals gerade ein Praktikum bei einer UN-Organisation in Südkorea gemacht, dort war der Rio+20-Gipfel natürlich großes Thema. Mir ist dann in Gesprächen mit meinen KollegInnen bewusst geworden, welch langer Prozess eigentlich dahinter steckt und wie frustrierend es ist, dass sich auch 20 Jahre danach noch immer so wenig in Richtung Nachhaltigkeit getan hat. Wobei es für die ostasiatische Region beispielsweise ungemein wichtig wäre. Hier leidet man unter Klimawandel, Ausweitung der Wüsten, Artenverlusten und weiter bestehender Armut – in China gibt es so viele arme Menschen wie es in Deutschland EinwohnerInnen gibt.
2 Die SDG haben ihren Ursprung in Rio. Stellen sie eine sinnvolle und zukunftsträchtige Weiterentwicklung der Agenda21 dar, oder haben wir es vielmehr mit altem Wein in neuen Schläuchen zu tun? Ist ihr Potential aufgrund ihrer Unverbindlichkeit ähnlich begrenzt wie das der Agenda21?
Die SDG umfassen einen wahnsinnig großen Katalog an politischen Maßnahmen. Wenn wir diese alle umsetzen würden, wäre extrem viel gewonnen. Dass nicht alles umgesetzt wird, ist aber klar, dazu liegen die Interessen von Staaten untereinander und zwischen anderen Gesellschaftsgruppen zu weit auseinander. So widersprüchlich die SDG teilweise sind, es sind dort Dinge reingeschrieben, die unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem auch in Deutschland komplett umkrempeln würden. Der Hartz IV Satz ist nicht SDG-konform. Wir müssten kleinbäuerliche Landwirtschaft viel mehr fördern. Unsere Naturschutzpolitik – vor allem auch in Nord- und Ostsee – müsste viel weiter gehen. Handel-, Verkehr-, Agrarpolitik – die richtig dicken Bretter der deutschen Innen- und Außenpolitik sind absolut nicht mit den SDG vereinbar.
Genau an dieser Stelle setzen wir als Zivilgesellschaft an. Natürlich sind die SDG nicht verbindlich und die Bundesregierung konzentriert sich in der Umsetzung bisher vor allem auf die einfachen Themen. Aber dass es überhaupt einen Diskurs darüber gibt, dass unsere Politik nicht nachhaltig ist, sich alle Ministerien in Deutschland damit auseinandersetzen und wir weltweit so viel Aufmerksamkeit darauf bekommen, in was für einer Welt wir leben könnten – das finde ich schon motivierend. Die SDG können als Werkzeug genutzt werden, mit dem man zeigt: Hey Staaten, das hier habt ihr euch selber vorgenommen. Das ist eure Agenda! Wenn ihr Politik macht, die in eine ganz andere Richtung geht, haben wir mit den SDG etwas, mit dem wir politisches Handel abgleichen und Druck ausüben können.
Eine Sache finde ich jedoch sehr beunruhigend an den SDG: Auch Unternehmen und Konzerne haben diese nun für sich entdeckt. Von der Autobranche, über Banken bis hin zu Tabakkonzernen – vor allem die großen Konzerne erklären mittlerweile, wie auch sie die SDG umsetzen. Das hat leider in den meisten Fällen wenig mit wirklicher Verbesserung von Umwelt- und Sozialstandards zu tun, sondern ist vor allem eine PR-Show. Es werden vornehmlich die Ziele rausgesucht, die für Unternehmen nützlich sind – Wirtschaftswachstum – aber menschenwürdige Arbeit, Einhaltung von Umweltauflagen oder Ressourcenschonung werden ignoriert. Dass von UN und Staaten vor allem auf privatwirtschaftliche Investition zur Umsetzung der SDG geschielt wird, kommt erschwerend hinzu. Wir müssen klar machen, dass Staaten sich nicht aus ihren Aufgaben wie öffentliche Dienstleistungen herausziehen und Unternehmen nicht gegen Mensch und Natur arbeiten dürfen.
3 Wenn du über die SDG vor einem nicht fachlichen Publikum sprichst, ist der Gipfel “normalen” Menschen überhaupt noch ein Begriff oder schon lange Schnee von gestern?
Ich glaube, die meisten Menschen können sich wenig unter diesen internationalen Prozessen vorstellen. Schon wie Politik gemacht wird, ist ja sehr abstrakt und dann noch die Aushandlung zwischen Staaten – das ist schon ziemlich weit weg vom Leben der meisten. Zudem wird die UN vor allem mit dem Sicherheitsrat und mit seiner Rolle in Konflikten gleichgesetzt. Wobei das beeindruckende der UN natürlich nicht dieser veraltete Club ein paar weniger Nachkriegsmächte ist, sondern die Generalversammlung und die Konventionen, in denen jeder Staat eine Stimme hat. Insofern muss man auch bei den SDG und bei der Erklärung des Rio-Prozesses ganz anders anfangen. Nicht die Prozesse erklären, sondern fragen, was die Menschen denn eigentlich selber gerne anders hätten und wie diese Veränderung wohl bewirkt werden könnte. Da kommen meistens tolle Ideen und Visionen von einer friedlichen, gesunden und gerechten Welt. Und wenn man dann erklärt, dass auch die Staaten solche Ideen in Abkommen reinschreiben und ähnliche Visionen für die Welt haben, dann versteht man erst mal das Potential der internationalen Zusammenarbeit. Und kann dann auch Rechenschaftspflicht und Umsetzung einfordern.
Marie-Luise Abshagen ist Referentin für Nachhaltige Entwicklung beim Forum Umwelt und Entwicklung. Sie engagiert sich schon lange für Menschenrechte und Umweltschutz.