Keynote für die Konferenz “Welche Zukunft hat Europa? Umsetzungschancen einer Zivilgesellschafts-Agenda“ des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement und des Wissenschaftszentrums Berlin, 29.11.2019
Jürgen Maier, Geschäftsführer des Forums Umwelt & Entwicklung
Als ich für diese Rede angefragt wurde, habe ich erst einmal gezögert. Die Zivilgesellschaft ist ja nun wirklich kein homogener Akteur, zumal sie in Wirklichkeit weit grösser ist als die verbandsförmig organisierte Zivilgesellschaft. Auch die ist schon durchaus heterogen. Eine eigene gemeinsame Agenda hat sie nicht, sie hat allerlei verschiedene Agenden.
In diesen Tagen erleben wir grosse Mobilisierungen, die uns dies sehr plastisch vor Augen führen. Am Dienstag kamen Bauern aus ganz Deutschland in großer Zahl nach Berlin, übrigens nicht zum ersten Mal, mit 10 000 Traktoren, um auf ihre wirtschaftliche Not aufmerksam zu machen, um gegen immer mehr Auflagen, auch und gerade Umweltauflagen zu protestieren, aber auch gegen die Globalisierung der Landwirtschaft durch immer mehr Freihandelsabkommen. Ähnliche Proteste gibt es auch in anderen Ländern, Frankreich, Niederlande.
Heute findet der globale Klimastreik statt, Fridays for Future, und die fordern mehr Klimaschutz, auch schon seit einem Jahr, endlich entschlossenen Klimaschutz. Auf den ersten Blick zwei völlig gegensätzliche Bewegungen.
Beide Mobilisierungen zeigen, dass auch die verbandsförmig organisierte Zivilgesellschaft durchaus Schwierigkeiten hat, hier mitzuhalten – sowohl die Bauernproteste als auch Fridays for Future sind in den letzten 12 Monaten quasi aus dem Nichts, an den Verbänden vorbei entstanden, und die hecheln jetzt hinterher um den Anschluss an die eigene Basis nicht zu verlieren.
Wissen wir im politischen Berlin noch, was draussen im Lande los ist, was die Menschen umtreibt, was ihre Sorgen sind? Eine Frage die sich keineswegs nur Parteien und Regierungen immer wieder stellen sollten, sondern auch Verbände. Ganz neu ist diese Frage ja nicht. Vor einigen Jahren hat die Wucht der Protestbewegung gegen TTIP ja auch schon alle überrascht. Schaut man sich weltweit um, rebelliert, ja revoltiert das Volk in immer mehr Ländern, täglich werden es mehr, und schon in Frankreich hat der seit einem Jahr andauernde Protest der Gelbwesten gezeigt: von all diesen Protesten werden die Regierungen genauso überrascht wie die Oppositionsparteien, die etablierten Gewerkschaften und Verbände.
Vordergründig war der Auslöser der Gelbwesten in Frankreich eine Dieselsteuer, also wenn Sie so wollen, eine Klimaschutzmassnahme, aber die Gelbwesten haben immer betont, sie seien nicht gegen Klimaschutz, sondern für sozial gerechten Klimaschutz. Die haben Angst vor dem Ende der Welt, wir haben Angst vor dem Ende des Monats, wenn uns das Geld ausgeht, war ein passender Spruch dafür. Auch in Deutschland haben wir mehr als genug Menschen, deren primäre Sorge nicht der Klimaschutz ist. Deutschland hat den grössten Niedriglohnsektor der Eurozone.
Wenn Sie von mir nun eine zivilgesellschaftliche Agenda für Klimaschutz wollen, dann könnte ich Ihnen die bekannten Forderungen vorlesen, die Sie wahrscheinlich alle kennen, Forderungen die auch die Regierung kennt, die sie aber nicht umsetzen will. Viel rascherer Kohleausstieg, viel rascherer Ausbau der Erneuerbaren Energien, Verkehrsvermeidung und die ökologische Verkehrswende mit allem drum und dran, Gebäudesanierung, Kerosinsteuern, Ende der Massentierhaltung, Streichung umweltschädlicher Subventionen und so weiter, und ich könnte Ihnen sagen, dass das alles natürlich sozial gerecht sein sollte. Alles richtig, und das kennen Sie alles.
Aber wir haben bekanntlich kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Umsetzungsdefizit, und das ist sehr umfassend. Die Bundesregierung wie auch die meisten anderen Regierungen der Welt ist fest im Griff von Leuten, die sich ihre Geschäftsmodelle nicht durch eine entschlossenen, wirksame Klimaschutzpolitik stören lassen wollen. Wenn man die großen Unternehmen nicht belasten will, dann muss man eben in erster Linie die normalen Leute belasten, und vor einer Klimaschutzpolitik die die Kosten im wesentlichen bei den Bürgern und nicht bei der Wirtschaft ablädt, hat die Regierung zurecht Angst. Auch die Zivilgesellschaft weiss zwar, was zu fordern ist, aber wie sie es durchsetzt, das weiss sie auch nicht. Nicht ganz freiwillig, aber durch den Druck von Fridays for Future und den Platzbesetzern von Ende Gelände setzt sie inzwischen weniger auf Lobby und mehr auf Massenproteste, aber das klägliche Klimapaket der Regierung zeigt, auch das wirkt noch nicht so recht.
Wir kommen also nicht so recht voran, und das obwohl wir wissen, dass wir keine Zeit zu verlieren haben, der letzte Sommer hat es ja überdeutlich bewiesen. Ich glaube, die berühmte Transformation zu einer klimaneutralen Wirtschaft wird nur gelingen, wenn sie für die meisten Menschen ein Gewinnerprojekt ist. Und damit reden wir nicht mehr nur über Klimapolitik, sondern ein wesentlich grösseres Projekt.
Geredet wird über die berühmte „sozial-ökologische Transformation“, über die Nachhaltigkeit, über „Klimagerechtigkeit“, über „just transition“ viel. In der politischen Praxis reduziert sich das schnell auf reine Klima- und Umweltpolitik. Auch die neue EU-Kommission will jetzt einen „European Green Deal“, damit soll die EU bis 2050 klimaneutral werden. Auch das ist ein fast reines Programm für Klimaneutralität, durchaus ambitioniert, und es soll lediglich einen „Just Transition Fonds“ geben, der betroffene Regionen unterstützen soll, wer auch immer das Geld dann am Ende bekommen wird. Der neoliberale Kern der EU-Wirtschaftspolitik wird aber nicht angetastet. Und genau das ist das Problem.
Wer will ernsthaft behaupten, mit einem stetig wachsenden Niedriglohnsektor, einer ständig wachsenden sogenannten Plattformökonomie mit keinerlei sozialer Sicherheit für Pseudo-Selbständige, mit einem Kasino-Kapitalismus können wir die Mammutaufgabe einer klimaneutralen Wirtschaft bewältigen? Das ist ausgeschlossen. Diese neoliberale Wirtschaft kann nur eines: die Reichen reicher machen. Dafür wurde sie erfunden. Mehr kann sie nicht. Genau das brauchen wir nicht. Wir brauchen einen Staat, der aktiv in die Wirtschaft eingreift, um diese Transformation voranzubringen.
In Amerika haben progressive Politiker für diese Aufgabe den Vorschlag gemacht, einen „Green New Deal“ zu machen, und das ist nicht dasselbe wie von der Leyens Green Deal. Im Wesentlichen geht es um ein massives öffentliches Investitionsprogramm für die Energiewende hin zu 100% Erneuerbaren, Energiesparen vor allem durch Gebäudesanierung, für eine Ökologisierung der Landwirtschaft, massiven Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel und anderer Zukunftsinfrastrukturen, und das gekoppelt mit einer Beschäftigungsgarantie und breiten Lohnsteigerungen im Niedriglohnsektor. Es ist naiv zu glauben, so etwas bekommt man, wenn man vor allem auf die Kräfte des Marktes setzt. Dafür brauchen wir einen aktiven Staat, der in die Wirtschaft eingreift. Der Green New Deal soll die Nutzung der fossilen Energien beenden, aber auch den Neoliberalismus. Natürlich werden für eine solche umfassende Umgestaltung der Wirtschaft jede Menge Arbeitskräfte benötigt, und das bedeutet es wird mehr neue Arbeitsplätze geben als alte verloren gehen. Das ist der Unterschied zu einem Strukturwandel, der ungeplant vonstatten geht und wie wir in jeden Tag erleben. Es geht nicht darum, ein reines Umweltprogramm aufzulegen, oder den Neoliberalismus klimafreundlicher zu machen, oder um den Umbau einer einzelnen Wirtschaftsbranche, etwa des Energiesektors, sondern es geht um den Umbau der gesamten Wirtschaft – um sie gleichzeitig nachhaltiger und sozial gerechter zu machen. Denn das sind die beiden Kernaufgaben unserer Zeit.
Und jetzt kommt natürlich sofort die Frage, wer soll das alles bezahlen. Eine Frage, die immer nur gestellt wird, wenn es um unsere Ideen geht. Wenn es darum geht, mit riesigen Milliardensummen Banken zu retten, ist immer Geld da. Wenn es darum geht, die Unternehmenssteuern noch weiter zu senken, dafür ist immer Geld da. Die EZB und andere Zentralbanken schaffen heute jeden Tag Milliarden aus dem Nichts, sie nennen es „quantitative easing“, und finanzieren damit alles Mögliche, Staatsschulden, Unternehmensanleihen und so weiter. Nur nichts Zukunftsweisendes. Wo landet denn dieses Geld am Ende? Im Endeffekt machen sie damit nur diejenigen noch reicher, die ohnehin reich sind. Lassen wir uns nicht einreden, die Rettung der Welt und der sozialen Demokratie sei zu teuer.
Die Anleihenkaufprogramme der EZB seit 2009 haben öffentliche und private Unternehmensanleihen gekauft für die schwindelerregende Summe von 2.6 Billionen Euro, das sind 2600 Milliarden Euro. Noch mehr haben die USA gemacht. Was genau damit gekauft wurde, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass eben nicht nur Staatsanleihen gekauft wurden, sondern auch Anleihen grosser Konzerne. Bayer konnte so seine Monsanto-Übernahme mit finanzieren. Geld ist offensichtlich genug da, es wird praktisch gedruckt. Es wird Zeit, dass damit etwas Sinnvolleres gemacht wird.
Machen wir uns nichts vor: wir werden das, worum es beim Green New Deal geht, den Übergang zu einer nachhaltigen und klimaneutralen Wirtschaft und die Wiederherstellung einer sozial gerechten Marktwirtschaft, nicht bekommen, weil tolle Politiker es uns schenken. Wir müssen es uns selbst erkämpfen. Nur starke Bewegungen für Umwelt und soziale Gerechtigkeit werden das durchsetzen können. Die Umweltbewegung und die ganze Zivilgesellschaft müssen lernen: Mit einer Politik von Mittelschichten für Mittelschichten und der Vorstellung, mit einem CO2-Preis der alle gleichmässig belastet, den Millionär genauso wie die Krankenschwester, können wir nur scheitern.
Natürlich sind die Widerstände enorm. Wir müssen auch ehrlich sein: Der Green New Deal ist keine der neumodischen „win-win“-Veranstaltungen, wo es angeblich nur Gewinner gibt. So etwas ist eine Illusion. Nein, es gibt dabei Verlierer, und das sind genau diejenigen, die in den letzten 40 Jahren den Neoliberalismus durchgeboxt haben, und die in dieser Zeit reicher geworden sind auf Kosten anderer.
Ein Green New Deal ist die notwendige Transformation zu einer sozial gerechten, ökologisch verträglichen Wirtschaft. Es ist die zentrale Herausforderung der nächsten Jahre und Jahrzehnte – aber sie ist kein Hexenwerk. Im Grunde wissen wir doch alle längst, was getan werden muss. Die Kosten dafür müssen von denjenigen bezahlt werden, die in 40 Jahren Neoliberalismus reicher geworden sind, und nicht von denen, die in 40 Jahren Neoliberalismus ärmer geworden sind. Nein, es geht nicht darum, uns alle gleichmässig zu belasten. Der Green New Deal kann, und er muss auseinanderdriftende Gesellschaften wieder zusammenbringen, sowohl politisch als auch ökonomisch. Es ist eine grosse Aufgabe, aber nichts auf der Welt ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.
Herzlichen Dank.