Trotz des Scheiterns der Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) im Dezember 1999 wird seit Anfang 2000 in einigen wichtigen Bereichen über die Liberalisierung des Handels weiterverhandelt. Hierzu gehört auch das Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen GATS (General Agreement on Trade in Services), dessen Neuverhandlung schon im Rahmen der 1994 abgeschlossenen Uruguay-Runde vereinbart wurde. Aufgrund seiner Reichweite und der Eingriffstiefe in innerstaatliche Regulierungen ist das Verhältnis dieses Abkommens zum Leitbild einer sozial und ökologisch verträglichen “zukunftsfähigen” Entwicklung von hoher Relevanz. Ende März 2001 wurde die erste Phase der Neuverhandlung mit einer Bestandsaufnahme und der Annahme von Verhandlungsrichtlinien abgeschlossen. In der nun folgenden Phase können die Mitgliedstaaten ihre Positionen weiter ausdifferenzieren und später (ab ca. Anfang 2002) ihr jeweiligen Liberalisierungsforderungen (sog. “requests”) und -angebote (sog. “offers”) unterbreiten.
Die politische Brisanz der GATS-Verhandlungen liegt vor allem darin, dass die bedeutendsten Hemmnisse für den internationalen Handel mit Dienstleistungen nicht – wie bei Waren – in traditionellen Maßnahmen der Zollpolitik, sondern in innerstaatlichen Regelungen bestehen. Mit dem GATS wurde daher eine multilaterale Verhandlungsinstanz geschaffen, welche die Entwicklung international verbindlicher Disziplinen für die staatliche Gesetzgebung und die Regulierung sämtlicher Dienstleistungsmärkte zum Zweck hat. Diese Disziplinen erstrecken sich auf Gesetze, Verordnungen, Verwaltungsrichtlinien, Normen und Standards sowohl auf dernationalen, wie auf der regionalen und kommunalen Ebene. Insbesondere mit den horizontalen, d.h. sämtliche Dienstleistungsbereiche umfassenden, Bestimmungen des Artikels VI (“domestic regulation”) greift das GATS weit in die Innenpolitik der WTO-Mitglieder ein und berührt nicht selten zentrale und sensible Bereiche staatlicher Regelungshoheit.
Prinzipiell umfasst das GATS sämtliche Dienstleistungsbereiche, die aus Verhandlungsgründen in 12 Sektoren untergliedert wurden:
1. Unternehmerische und berufsbezogene Dienstleistungen
2. Kommunikationsdienstleistungen
3. Bau- und Montagedienstleistungen
4. Vertriebsdienstleistungen
5. Bildungsdienstleistungen
6. Umweltdienstleistungen
7. Finanzdienstleistungen
8. Medizinische und soziale Dienstleistungen
9. Tourismus und Reisedienstleistungen
10. Erholung, Kultur und Sport
11. Transportdienstleistungen
12. Sonstige nicht aufgeführte Dienstleistungen
Ferner unterscheidet das GATS im Artikel I vier Erbringsarten (“modes”) des Dienstleistungshandels: 1.) die grenzüberschreitende Lieferung; 2.) den Konsum von Dienstleistungen im Ausland (z.B. im Tourismus); 3.) die kommerzielle Präsenz im Ausland und 4.) die zeitweise Migration von Dienstleistungserbringern. Damit erstreckt sich das GATS nicht nur auf den klassischen grenzüberschreitenden Handel, sondern auch auf ausländische Direktinvestitionen und die befristete Arbeitsmigration. Insofern ist das GATS im Kern ein Handels- und Investitionsschutzabkommen, das eine Reihe von Elementen des 1998 gescheiterten Multilateralen Abkommens über Investitionen (MAI) enthält.
Vom GATS-Regelungsumfang sind nur solche Dienstleistungen ausgeschlossen, die “in Ausübung hoheitlicher Gewalt erbracht” werden (Art. I). Allerdings ist ungeklärt, welche – vor allem öffentliche – Dienstleistungen in hoheitlicher Gewalt erbracht werden. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Dienste weder zu kommerziellen Zwecken, noch in Konkurrenz zu kommerziellen Anbietern erbracht werden dürfen. Problematisch könnten daher alle Bereiche sein, die teilprivatisiert sind, in denen Privatisierung angestrebt wird oder in denen quasistaatliche oder private Anbieter öffentliche Aufgaben wahrnehmen. Beispielsweise erfasst das Klassifikationsschema des GATS bereits das Bildungs- und Gesundheitswesen und es gibt Versuche, die Wasserversorgung als Umweltdienstleistung zu integrieren.
Artikel VI des GATS beauftragt den WTO-Rat für den Dienstleistungshandel Disziplinen zu entwickeln, die gewährleisten, dass nationale Qualifikationserfordernisse, technische Normen sowie Zulassungsverfahren nicht belastender sind als nötig, um die Qualität einer Dienstleistung sicherzustellen. Welche politischen Ziele jedochhandelsbeschränkende Auflagen legitimieren können, bleibt ungeklärt. Offen ist damit, ob zur Qualität einer Dienstleistung auch ihre Umweltverträglichkeit, der Arbeits-, Verbraucher- und Gesundheitsschutz, sozial- oder strukturpolitische Ziele gezählt werden dürften.
Darüber hinaus erzeugt das GATS einen Druck, schon im Entwurfsstadium von Gesetzgebungsvorhaben in einen internationalen Beratungsprozess mit interessierten Parteien einzutreten. So verhandelt die unter dem GATS eingesetzte “Working Party for Domestic Regulation” über die Verpflichtung zu derartigen Konsultationen und über die Kriterien zur Bestimmung der “Notwendigkeit” staatlicher Maßnahmen, die sog. “necessity tests“. Folglich besteht die Möglichkeit, dass nationale Politikpräferenzen, die immerhin durch parlamentarische Verfahren legitimiert sein können, zugunsten der handelspolitischen Interessen anderer WTO-Mitglieder zurückgestellt werden.
Noch sind die horizontalen Bestimmungen des GATS nur auf diejenigen Sektoren anwendbar, die die WTO-Mitglieder in sogenannte Länderlisten spezifischer Verpflichtungen aufgenommen haben. Diese flexible “bottom-up”-Struktur wollen die EU-Kommission und andere Industriestaaten aber in den angelaufenen Verhandlungen überwinden. Die Verpflichtungen in einzelnen Dienstleistungsbereichen sollen ausgeweitet und Sektoren, in denen es bisher nur wenige Zugeständnisse gibt (z.B. Bildung und Gesundheit), stärker in das WTO-Regime überführt werden. Entwicklungsländer plädieren dagegen überwiegend für eine Beibehaltung der flexiblen Struktur des GATS. Sie befürchten u.a. mögliche Beschränkungen ihrer Investitionspolitik und der souveränen Steuerung von Kapitalströmen, letztere wird insbesondere durch die Finanzdienstleistungsliberalisierung unter dem GATS bedroht. Ferner vermissen sie Sonderregelungen für arme Länder (das sog. “special and differential treatment“), Möglichkeiten der zeitlich befristeten Rücknahme von Liberalisierungsverpflichtungen bei Notständen und ein größeres Entgegenkommen der Industrieländer bei befristeten Arbeitsaufenthalten von Dienstleistungserbringern (“mode 4”).
Noch ist die europäische Außenhandelspolitik nicht vollständig vergemeinschaftet. Zwar wurde der Artikel 133 des EG-Vertrags bei der Regierungskonferenz in Nizza dahingehend geändert, dass Dienstleistungen nunmehr in die exklusive Kompetenz der EU fallen. Jedoch gibt es einige sensible Bereiche, in denen Handelsabkommen nicht nur durch den Ministerrat, sondern auch durch die Mitgliedstaaten ratifiziert werden müssen. In diese sog. gemischte Kompetenz fallen kulturelle und audiovisuelle Dienstleistungen, Bildungsdienstleistungen, Soziales und das Gesundheitswesen. Unklar ist allerdings, ob das GATS als “horizontales” Abkommen eingestuft werden könnte, denn trotz der sektoralen Liberalisierungsverpflichtungen enthält es faktisch sektorübergreifende, horizontale Bestimmungen. Abkommen horizontaler Art können im EU-Ministerrat nur einstimmig angenommen werden, räumen einzelnen Mitgliedstaaten folglich die Veto-Möglichkeit ein.
Aufgrund der Eingriffsmöglichkeit des GATS in nationale und kommunale Regelungshoheit ist eine intensive öffentliche Auseinandersetzung über die Dienstleistungsverhandlungen in Genf dringend geboten. Als beispielhaft kann hier die kanadische Regierung angeführt werden, die im vergangenen Jahr eine erste Runde von “multi-stakeholder”-Konsultationen zum GATS sowohl auf der Bundesebene, wie auch in den Provinzen und Territorien Kanadas durchführte.
Forderungen
Angesichts der größtenteils völlig ungeklärten demokratischen, sozialen, entwicklungspolitischen und ökologischen Implikationen weiterer Liberalisierungen des internationalen Dienstleistungshandels fordern die in der AG Handel des Forum Umwelt & Entwicklung zusammengeschlossenen Nichtregierungsorganisationen unter anderem:
- ein sofortiges Moratorium der Dienstleistungsverhandlungen in der WTO. Während der Dauer dieses Moratoriums sind umfangreiche Untersuchungen der GATS-Bestimmungen sowie nationaler Verhandlungsvorschläge auf ihre sozialen, ökologischen und entwicklungspolitischen Folgen – sogenannte Sustainability Impact Assessments – durchzuführen. Das Moratorium muss solange andauern, bis die Untersuchungsergebnisse öffentlich diskutiert und notwendige Anpassungen des GATS-Regelwerks vorgenommen wurden.
- die Herausnahme öffentlicher Dienstleistungen aus dem Geltungsbereich des GATS, z.B. im Rahmen einer Präzisierung des GATS Artikels I.3. Die Bereitstellung qualitativ hochwertiger und allgemein zugänglicher öffentlicher Dienstleistungen muss in staatlicher Hoheit verbleiben.
- keine Festlegung von Vorgaben für staatliche Regulierungen von Dienstleistungen (“domestic regulation”-Auflagen) im Rahmen von Artikel VI des GATS. Dieses Anliegen ist von besonderer Bedeutung, um umwelt- und sozialpolitisch motivierte Regulierungsmöglichkeiten auf kommunaler, nationaler und regionaler Ebene zu erhalten. Die bisherigen negativen Erfahrungen mit den “Notwendigkeitstests” der WTO zeigen, wie leicht staatliche Auflagen zu “ungerechtfertigten Handelshemmnissen” erklärt werden können.
- Ergänzung des Artikel XIV (GATS) über “Allgemeine Ausnahmen” um den Schutz erschöpflicher natürlicher Ressourcen. Das GATS enthält keine explizite Regelung, die umweltpolitisch motivierte handelsbeschränkende Maßnahmen erlauben würde. Der Umwelt- und Ressourcenschutz wird nur indirekt durch den Artikel XIV(b) über Maßnahmen zum Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen erfasst.
- der Verzicht auf investitionspolitische Forderungen und Festlegungen im Rahmen des GATS (‘Kein MAI durch die Hintertür’).
- die Unterstützung von Entwicklungsländern bei einer entwicklungsförderlichen Umgestaltung der GATS-Regeln, u.a. durch das Prinzip der speziellen und differenzierten Behandlung sowie die Einräumung von Sicherheitsklauseln bei Notständen.
- keine Einschränkung der souveränen Steuerung des Zahlungs- und Kapitalverkehrs durch die Liberalisierung von Finanzdienstleistungen. Die WTO-Mitgliedstaaten müssen u.a. das Recht behalten, den Kapitalverkehr – z.B. durch Kapitalverkehrskontrollen – zu regulieren..
- die Einrichtung wirksamer Partizipations- und Diskussionsmöglichkeiten für die interessierte Öffentlichkeit (insbes. NGOs, Verbraucherorganisationen, Gewerkschaften, , kommunale Verbände, etc. ). In einem ersten Schritt könnte sich Deutschland die öffentlichen Konsultationen und die Informationspolitik der kanadischen Regierung zum Beispiel nehmen.
- die unverzügliche Unterrichtung der interessierten Öffentlichkeit durch die Veröffentlichung und Diskussion aller sektoralen ?Request’- und ?Offer’-Verhandlungspositionen Deutschlands und der Europäischen Union sowie der Drittlandsforderungen gegenüber der EU. Ferner sind alle Vorschläge für neue horizontale GATS-Regeln (u.a. zu “domestic regulation”) öffentlich zu diskutieren.
- die demokratische und parlamentarische Mitgestaltung der europäischen Handelspolitik. Hierfür ist eine erneute Reform des Artikels 133 EGV notwendig. Nationale Parlamente und das EU-Parlament müssen schon im Verlauf von Handelsverhandlungen konsultiert werden.