Für eine grundlegende WTO-Reform statt einer “Millenium-Runde” Positionspapier der Arbeitsgruppe Handel des Forum Umwelt und Entwicklung zur Strategie der EU für die WTO-Ministerkonferenz in Seattle Die Europäische Union möchte die 3. WTO-Ministerkonferenz in Seattle Ende des Jahres zum Startpunkt einer neuen umfassenden Liberalisierungsrunde für die Weltwirtschaft zu machen. In einer sog. “Millenium-Runde” sollen nicht nur der Handel mit Gütern und Dienstleistungen in hohem Tempo weiter liberalisiert, sondern auch neue Vereinbarungen zu Bereichen wie Investitionen, Wettbewerbsrecht und “electronic commerce” geschlossen werden.Die bisherigen Erfahrungen zeigen jedoch, daß die WTO in ihrer derzeitigen Form ungeeignet ist, Regeln für die Weltwirtschaft aufzustellen. Um das Bild eines britischen Farmers zu verwenden:”Angesichts des Handelsverkehrs ist es sinnvoll einen Verkehrspolizisten zu haben. Zur Zeit sieht der Verkehrspolizist es aber als seine Aufgabe an, das Verkehrsaufkommen zu erhöhen und überläßt es den Fahrern der teuren Autos, die Verkehrsregeln zu machen.”Es ist an der Zeit, die seit langem sichtbaren Defizite des Welthandelssystems anzugehen, um den ökologischen, sozialen und entwicklungspolitischen Herausforderungen des kommenden Jahrtausends gerecht zu werden.Defizite und Reformbedarf:
1. Als erster Schritt zu einer WTO-Reform ist eine gründliche Bestandsaufnahme der bestehenden Verträge und ihrer Umsetzung vorzunehmen. Insbesondere die Auswirkungen auf die Umwelt, die soziale Situation, die Lage von Frauen und ökonomisch besonders verwundbaren Bevölkerungsgruppen, die Menschen- und Arbeitnehmerrechte und die Entwicklungsperspektiven der Länder des Südens müssen eingehend untersucht werden. Die Ergebnisse müssen als Basis für eine entwicklungs-, umwelt- und sozialverträgliche Reform der WTO dienen.
2. Die bestehenden WTO-Verträge weisen große Ungleichgewichte zu Lasten der Entwicklungsländer auf, auch und gerade bei den für sie besonders wichtigen Abkommen über Landwirtschaft und Textilien. Bei der im WTO-Rahmen vorgesehenen Vorzugsbehandlung für Entwicklungsländer bestehen erhebliche Defizite. Dies betrifft sowohl den Inhalt, als auch die Umsetzung der Vorzugsregelungen.
Den Entwicklungsländern muß die reale Beteiligung in der WTO ermöglicht werden. Die hochkomplizierten und intransparenten Entscheidungsprozesse bevorteilen die Industrieländer mit ihren großen, gut ausgestatteten Delegationen gegenüber ärmeren Ländern.
3. Sowohl die internen Strukturen der WTO als auch ihre Stellung im internationalen System verweisen auf grundlegende Demokratiedefizite. Da viele Regelungen die nationale Gesetzgebung einschränken, dürfen Verträge nicht exklusiv zwischen Regierungen ausgehandelt werden. Öffentlichkeit, Parlamente und Nichtregierungsorganisationen müssen an den Diskussions- und Entscheidungsprozessen beteiligt werden.
Das Kräfteverhältnis zwischen der WTO und internationalen Organisationen, die sich mit nachhaltiger Entwicklung, politischen und sozialen Menschenrechten beschäftigen, muß besser ausbalanciert werden. Es ist z.B. nicht vertretbar, daß UN-Organisationen (mit Ausnahme des Sicherheitsrats) mangels wirksamer Durchsetzungsmechanismen de facto Papiertiger sind, während die WTO zur Durchsetzung ihrer Bestimmungen über effektive Mechanismen verfügt.
1. Untersuchung der Auswirkungen der Handelsliberalisierung
Die WTO hat gemäß ihrer Präambel u.a. die Steigerung des Lebensstandards, Vollbeschäftigung und nachhaltige Entwicklung für alle Menschen zum Ziel. Laut Präambel dient die schnelle und vollständige Liberalisierung und Deregulierung des Welthandels diesen Zielen. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen aber, daß dies keineswegs der Fall sein muß, im Gegenteil, es gibt zahlreiche Beispiele, bei denen die Liberalisierung und Ausweitung des Handels bestehende Probleme verschärft oder neue hervorruft.
Da Handelsliberalisierung nicht automatisch sozialen und ökologischen Zielen dient, ist es notwendig, die Effekte handelspolitischer Abkommen eingehend zu untersuchen. Die “Trade policy reviews” der WTO bewerten die Politik der Mitgliedsländer ausschließlich an der Umsetzung der Liberalisierungsziele. Auswirkungen auf die Umwelt, die soziale Situation, Arbeitnehmer- und Menschenrechte und die Situation der Frauen werden hingegen nicht berücksichtigt. Dies gilt sogar für den Agrarsektor, obwohl im Artikel 20 des WTO-Agrarabkommens ausdrücklich die Untersuchung der Auswirkungen der Handelsliberalisierung auf “non-trade-concerns” wie Umwelt und Ernährungssicherheit gefordert wird.
Die Bestandsaufnahme muß in einem öffentlichen, transparenten, partizipatorischen Prozeß und unter Einbeziehung unabhängiger Expertise durchgeführt werden. Es müssen sowohl die relevanten internationalen Institutionen als auch Gewerkschaften, Vertreter sozialer Bewegungen, Nichtregierungsorganisationen (NRO) u. a. zivilgesellschaftliche Gruppen einbezogen werden. Auf Regierungsseite müssen die Ministerien für Arbeit, Soziales, Umwelt, Gesundheit etc. vertreten sein.
2. Stärkere Berücksichtigung und Einbindung der Entwicklungsländer
In den bestehenden WTO-Verträgen, unter anderem in den Abkommen über Landwirtschaft und Textilien, gibt es große Ungleichgewichte zu Lasten der Entwicklungsländer. Die von der WTO noch zugelassenen wirtschafts- und handelspolitischen Instrumente sind überwiegend auf die Bedürfnisse der Industrieländer zugeschnitten. Die vorgesehenen Ausnahmeregelungen für Entwicklungsländer ändern daran nichts grundlegendes. Ein anschauliches Beispiel bietet das Agrarabkommen:
Das Abkommen über Landwirtschaft setzt zwar erstmals Obergrenzen für die Subventionierung der Landwirtschaft, legalisiert sie aber auf dem nur leicht verringerten Niveau. Gleichzeitig sind die Entwicklungsländer zur Öffnung ihrer Märkte verpflichtet. Wollen sich die Entwicklungsländer vor den subventionierten Exporten der Industrieländer schützen, müssen sie in einem komplizierten Verfahren die Schädigung der heimischen Wirtschaft durch die Exporte nachweisen. Vielen Entwicklungsländern ist dies kaum möglich. In der Konsequenz verpflichtet das Agrarabkommen die Entwicklungsländer zur Öffnung ihrer Märkte für subventionierte Exporte, während ihnen der Zugang zu den Agrarmärkten der Industrieländer durch die Anwendung sehr hoher Zölle weiterhin verschlossen bleibt.
Die im Agrarabkommen zulässigen internen Unterstützungsmaßnahmen sind stark auf die Bedürfnisse der Industrieländer zugeschnitten, und der Problemlage der meisten Entwicklungsländer nicht angemessen. Dort sind Instrumente notwendig, die Produktionsanreize vor allem für Grundnahrungsmittel schaffen. Das Agrarabkommen bietet im Rahmen der Vorzugsbehandlung für Entwicklungsländer zwar einige sinnvolle Ansätze, notwendig wären aber noch weitergehende Maßnahmen insbesondere bei der Preispolitik und ihrer außenwirtschaftlichen Absicherung. Darüber hinaus benötigen viele Entwicklungsländer finanzielle Unterstützung, um notwendige Investitionen in den oft seit langem vernachlässigten Agrarsektor nachzuholen.
Die Vorzugsbehandlung für Entwicklungsländer muß in allen Sektoren so ausgestaltet werden, daß sie den spezifischen Problemen und Bedürfnissen dieser Staaten gerecht wird. Dazu sind substantiell andere Regelungen notwendig, längere Übergangs- und Anpassungsfristen reichen nicht aus. Gerade den ärmsten Entwicklungsländern müssen zusätzlich zu den Rechten auf Marktzugang und Förderung der heimischen Wirtschaft auch finanzielle Mittel gewährt werden, um von den Rechten Gebrauch machen zu können. Nur so können sie mögliche Vorteile der Liberalisierung nutzen und Anpassungsprozesse sozial abfedern.
Die Ungleichgewichtigkeit der Regelungen ist unter anderem ein Resultat der Ungleichheit der Partizipationsmöglichkeiten bei Verhandlungen. Die Vertretungen vor allem der ärmeren Entwicklungsländer in Genf sind mangels Personal nicht in der Lage, allen für sie relevanten Diskussionsprozessen in der WTO zu folgen. Das liegt nicht nur an der Vielzahl der Ausschußsitzungen und Arbeitsgruppen, sondern auch daran, daß von informellen Treffen keine Protokolle veröffentlicht werden. Ein ähnliches Problem stellt sich bei den Streitschlichtungs- und Anti-Dumping-Verfahren. Vielen Entwicklungsländern fehlen die personellen und finanziellen Ressourcen, um die komplexe Beweisführung in den WTO-Gremien adäquat vorzubereiten.
Die Verfahren der WTO müssen einfacher und transparenter werden. Wichtige Entscheidungen sollten ausschließlich in den formellen Gremien diskutiert und vorbereitet werden. Gleichzeitig müssen den ärmsten Entwicklungsländern Mittel bereitgestellt werden, um arbeitsfähige Delegationen in Genf zu unterhalten. Der Vorschlag, einen “Rechtsbeistand” für Entwicklungsländer in Streitschlichtungsverfahren einzurichten, sollte zügig realisiert werden.
3. Das Verhältnis der WTO zum UN-System und zur Zivilgesellschaft
Die WTO-Verträge greifen massiv in die Gesetzgebungskompetenz der nationalen Parlamente ein. Gleichzeitig sind Parlamente und gesellschaftliche Gruppen an der Aushandlung der Verträge nicht beteiligt und nur unzureichend darüber informiert. Die Ergebnisse der Regierungsverhandlungen können dann nur noch pauschal ratifiziert werden. Eine parlamentarische Kontrolle der komplexen Verhandlungen ist so kaum möglich.
Ähnliches gilt für die Streitschlichtungsverfahren, in denen von Regierungen entsandte Experten über die Auslegung der WTO-Verträge und die Zulässigkeit handelspolitischer Maßnahmen entscheiden. Dabei werden nur die Ergebnisse der Beratungen veröffentlicht, und die von der verhandelten Politik betroffenen Gruppen, wie Gewerkschaften, Umweltverbände und Bauernorganisationen haben kaum Möglichkeiten, ihre Anliegen vorzubringen.
Die Politik der WTO und der nationalen Regierungen muß transparenter werden. Dokumente über Entscheidungen und Diskussionen in der WTO müssen grundsätzlich öffentlich zugänglich sein. Organisationen der von handelspolitischen Maßnahmen Betroffenen müssen sowohl in den Streitschlichtungsverfahren als auch in den Ausschüssen der WTO ein Anhörungsrecht haben. Die nationalen Regierungen müssen ihre Parlamente die interessierte Öffentlichkeit regelmäßig über den Stand der Verhandlungen in der WTO informieren, und sie bei der Definition ihrer Verhandlungsposition konsultieren.
Die WTO hat mit ihrem Streitschlichtungsverfahren und durch das Instrument der Handelssanktionen vergleichsweise effektive Mittel, um die Einhaltung der Handelsverpflichtungen durchzusetzen.
Im Gegensatz dazu besitzen die internationalen Organisationen und Konventionen, deren unmittelbares Ziel die Umsetzung nachhaltiger Entwicklung ist, nur sehr geringe Durchsetzungskraft. Einige wie das UN-Umweltprogramm und die Kommission für nachhaltige Entwicklung können keine völkerrechtlich bindenden Entscheidungen treffen, anderen wie dem Hochkommissariat für Menschenrechte, der Internationalen Arbeitsorganisation, oder den Biodiversitäts- und Klimaschutzkonventionen, mangelt es an Instrumenten, Vereinbarungen und Bestimmungen durchzusetzen.
Implizit wird dem Freihandel damit ein höherer Rang im internationalen System eingeräumt als der nachhaltigen Entwicklung. Dieses Ungleichgewicht muß durch die Stärkung der Durchsetzungsmechanismen der UN-Organisationen umgekehrt werden. Die WTO muß zur Zusammenarbeit mit den relevanten UN-Organisationen verpflichtet werden. In Fällen, wo es zu Konflikten zwischen den WTO-Regeln und internationalen Umwelt- oder Sozialabkommen kommt, müssen letztere grundsätzlich Vorrang haben. Handelsliberalisierung hat sich den Zielen der nachhaltigen Entwicklung unterzuordnen, denn Handel kann ein Instrument, aber kein Ziel an sich sein.
Schlußfolgerungen
Die Tagesordnung der nächsten WTO-Ministerkonferenz in Seattle muß von der beschriebenen grundlegenden Reform der WTO bestimmt werden, statt von einer weiteren Liberalisierungsrunde. Nur in einem intelligenten Mix von Liberalisierungsmaßnahmen und politischer Steuerung zum Schutz der wirtschaftlich und sozial Schwachen, der Entwicklungsländer und der Umwelt kann der Welthandel zu einer sozial gerechten und ökologisch nachhaltigen Entwicklung beitragen.Um das Bild vom Verkehrspolizisten nochmals aufzugreifen: Er muß aufpassen., daß niemand unter die Räder kommt, und dabei besonders auf die schwächeren Verkehrsteilnehmer achten. Auch die Verkehrsregeln müssen sich an diesem Ziel orientieren. Es ist eine schlechte Verkehrspolitik, die Zahl der Fahrzeuge permanent zu erhöhen und jegliche Tempolimits aufzuheben.Wir fordern die Bundesregierung auf, die Verhandlungsposition der EU entsprechend zu beeinflussen, und durch ihr eigenes Verhalten in puncto Transparenz und Finanzierung von Reformschritten ein positives Beispiel zu geben.