“Absence of evidence of harm is not evidence of absence of harm” –
Ausgehend von dieser Ãœberlegung ist das umwelt- und verbraucherpolitische Prinzip der Vorsorge (Vorsorgeprinzip, VSP; englisch: “precautionary principle”) entwickelt worden. Nach dem VSP sollen Maßnahmen zur Verhinderung von Schäden bereits dann ergriffen werden können, wenn (noch) wissenschaftliche Unsicherheit über das mit einem neuen Produkt oder einer neuen Technologie verbundene Risiko für die Umwelt und den Menschen besteht.
Unter Hinweis auf das VSP erklärten auf einem Umweltministerrat der Europäischen Union (EU) im Juni 1999 fünf EU-Mitgliedsstaaten (MS) – Dänemark, Frankreich, Griechenland, Italien und Luxemburg -, dass sie die weitere Zulassung von gentechnisch veränderten Organismen (GVO) so lange blockieren würden, bis die EU-Kommission Regelungen zur Kennzeichnung und zur Rückverfolgbarkeit von GVO und aus GVO hergestellten Produkten vorlege. Zwischen Oktober 1998 und Mai 2004 bestand in der EU daher ein de facto Moratorium für GVO-Zulassungen.
Obwohl bis heute unter den EU-Staaten keine qualifizierte Mehrheit für GVO-Zulassungen besteht, hob die Kommission das Moratorium am 19. Mai 2004 auf. Gleichzeitig strebt die Kommission ein Ende von in fünf EU-Staaten (Österreich, Deutschland, Luxemburg, Frankreich, Griechenland) bestehenden nationalen Vermarktungs- und Importverbote für EU-weit bereits zugelassene GVO an. Die von der EU-Kommission forcierte Zulassungspraxis steht in Gegensatz zum VSP. Das Prinzip wird jedoch im EU-Vertrag, im EU-Sekundärrecht und in einer Mitteilung der EU-Kommission zum VSP aus dem Jahr 2000 als umweltpolitisches Kernprinzip anerkannt. Auch hat sich die EU auf internationaler Ebene immer wieder für eine Verankerung des VSP in Abkommen stark gemacht.
Ausgehend von diesem scheinbaren Widerspruch im Verhalten der EU soll in dieser Studie danach gefragt werden, in welchem Maße die EU-Kommission offiziell wirklich ein “starkes” VSP vertritt. Oder ob sie, betrachtet man ihre Mitteilung aus dem Jahr 2000, ein eher “schwaches” VSP formuliert; und ob nicht bereits in dieser schwachen Ausformung des VSP und dem dadurch geprägten EU-Sekundärrecht zum Umgang mit GVO die von der Kommission schon immer angestrebte und seit dem Ende des de facto Moratoriums durchgesetzte Zulassungspraxis für GVO angelegt war.
Zunächst wird ein Überblick über die Geschichte des VSP im Umweltvölkerrecht und mögliche Definitionen des Prinzips gegeben. Als Analyserahmen der nachfolgenden Betrachtungen werden drei idealtypische Positionen zur Implementierung des VSP dargestellt.
Darauf aufbauend wird die unklare Stellung des VSP und des Cartagena-Protokolls über biologische Sicherheit, das Ausdruck des VSP ist, im WTO-Recht und in dessen Interpretation durch die WTO-Rechtsprechung dargestellt. Die Position der WTO zum VSP wird dabei anhand der idealtypischen Positionen aus Kapitel II eingeordnet. Dabei wird die Relevanz der bisherigen WTO-Rechtsprechungspraxis hinsichtlich der Eingaben der Streitparteien im Gentechnikstreitfall erläutert.
In Kenntnis der WTO-Position zum VSP wird in Kapitel IV zunächst die offizielle Position der EU-Kommission zum VSP bewertet; insbesondere werden deren Schwachpunkte problematisiert und beleuchtet, inwiefern diese Schwächen darauf zurückzuführen sind, dass sich die Kommission an der WTO-Position orientiert. Anschließend wird anhand des EU-Sekundärrechts und der Zulassungspraxis für GVO in der EU seit Mai 2004 nachgezeichnet, wie die bereits in der offiziellen Kommissionsposition angelegten Schwächen zu einer weitgehenden Aushöhlung des Vorsorgeprinzips in der EU-Politik zu GVO führen.
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