Vorbemerkung
In der Uruguay-Runde des GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) wurde die Reich-weite der internationalen Handelsordnung substantiell erweitert. Anders als das alte GATT 1947 ist die Welthandelsorganisation WTO seit ihrer Gründung 1995 auch für Regelungen im Bereich des Agrarhandels, bei Textilien, Dienstleistungen, handelsbezogenen Investitionsmaß-nahmen und bei geistigem Eigentum zuständig. Zudem haben die Verhandlungen in vielen Sachbereichen inzwischen permanenten Charakter erhalten. Gleichzeitig hat die WTO neue Kompetenzen bei der Überprüfung von Handelspolitiken und der Festsetzung handelsrelevan-ter Standards erhalten. Vor allem aber durch die rechtliche Verbindlichkeit und Sanktionsfähig-keit des Schiedsgerichtsverfahrens ist die WTO zu einer der einflussreichsten internationalen Organisationen geworden. Auch zukünftig strebt sie die Erweiterungen und Vertiefungen ihrer Kompetenzen an. Je umfassender die Kompetenzen einer internationalen Organisation sind, desto drängender stellt sich die Frage nach demokratischer Kontrolle, Partizipation und Transparenz. Vor dem Hintergrund eines kontinuierlichen Zugewinns an Macht und Einfluss sind bei der WTO diesbezüglich gravierende Defizite festzustellen. Die Ereignisse anlässlich der WTO-Ministerkonferenz von Seattle waren deutliche Zeichen hierfür. Im vorliegenden Papier nehmen die in der AG Handel des Forums Umwelt & Entwicklung vertretenen deutschen Nichtregie-rungsorganisationen Stellung zu den genannten Problemkreisen. Festzuhalten ist zunächst, dass die WTO, trotz ständig steigender Mitgliederzahl und ihrer um-fassenden Zuständigkeiten, außerhalb des Systems der Vereinten Nationen (UNO) agiert und ihre Politik nicht an globalen Zielen, wie einer gerechten Verteilung des materiellen Wohlstan-des auf der Welt oder dem internationalen Umweltschutz, orientiert. Die WTO ist nach wie vor primär dem Postulat des Freihandels unterworfen. Solange diese strukturelle Einseitigkeit bestehen bleibt, können auch institutionelle und formale Änderungen des Systems der WTO das Legitimationsdefizit nicht nachhaltig reduzieren.
I. Probleme
- Das Legitimationsdefizit der WTO ist in erster Linie ein Demokratiedefizit. Die umfangrei-chen Regelungen der WTO-Verträge beeinflussen zahlreiche Bereiche nationaler Politik (Wirtschafts-, Sozial-, Gesundheits- und Umweltpolitik). Gleichzeitig führen die völkerrecht-lich bindenden Entscheidungen der Streitschlichtungsorgane dazu, dass demokratisch legi-timierte nationale Gesetze WTO-Recht weichen müssen. WTO-Recht wirkt somit ähnlich wie das supranationale EG-Recht direkt auf nationale Politiken. Dem Zusammenschluss der Regierungen in der WTO ist jedoch nicht in gleichem Maße eine legislative, parlamen-tarische Kontrolle nachgewachsen. Daher ist das supranationale Durchgriffsrecht der WTO demokratisch unzureichend legitimiert. Aufgrund der Intransparenz und der mangelnden Information durch die eigene Regierung können viele ParlamentarierInnen – selbst in den zuständigen Ausschüssen – die Entscheidungen in der WTO nicht nachvollziehen. Bei der Zustimmung zu den WTO-Verträgen bekamen viele Parlamente die Vertragsentwürfe erst kurz vor der anstehenden Entscheidung und nicht immer in der eigenen Sprache vorgelegt. Die Legitimationskette von der gewählten Regierung bis zu den in der WTO verhandelnden BeamtInnen und DiplomatInnen ist zu lang und unzureichend. In diesem Zusammenhang ist die Abgabe der Entscheidungskompetenzen der europäischen Regierungen an die EU-Kommission besonders bedenklich.
- Angesichts der oft weitreichenden Wirkungen handelspolitischer Maßnahmen auf andere gesellschaftliche Bereiche – darunter Entwicklung, Arbeit, Soziales, Umwelt und Kultur – entsteht im Geflecht internationaler Institutionen und Regulierungen ein Ãœbergewicht handelspolitischer Interessen gegenüber anderen gesellschaftlichen Interessen. Internationale Organisationen, in denen solche Fragen bearbeitet werden (ILO, UNCTAD, UNDP, UNEP, UNESCO u.a.) können – anders als dies im jeweils nationalstaatlichen Rahmen durch Sozial-, Arbeits- oder Umweltgesetzgebung o.ä. möglich ist – der einseitigen Dominanz der handelspolitischen Interessen kein regulatives Gegengewicht entgegensetzen. Dadurch wird die Hierarchisierung im internationalen System gefördert und bestehende Hegemonialstrukturen werden gefestigt. Somit wirkt die WTO über die eigenen Organisationsgrenzen hinaus als entdemokratisierendes Element im internationalen System.
- Die Entscheidungsfindung in der WTO ist von geringen Partizipationsmöglichkeiten der VertreterInnen vieler Entwicklungsländer geprägt. Zwar gilt in der WTO formal das Kon-sensprinzip, Konsens bedeutet aber lediglich, dass keiner der bei einem Treffen Anwesen-den ausdrücklich einem Vorschlag widerspricht. Für viele Entwicklungsländer, die in Genf nur sehr kleine Delegationen unterhalten, ist eine tatsächliche Anwesenheit in den oft parallel stattfindenden Sitzungen verschiedener WTO-Gremien nicht möglich. Das Konsensprinzip in der WTO sichert daher nur, dass nichts gegen den Willen der großen Handelsmächte entschieden werden kann. Hinzu kommt, dass in der WTO zahlreiche in-formelle Verhandlungen stattfinden, bei denen nicht bekannt ist, wer an ihnen teilnimmt und worüber im einzelnen verhandelt wird. In diesen sog. green rooms werden gleichwohl faktisch alle wichtigen Entscheidungen getroffen. Dennoch sind die Delegationen der meisten Entwicklungsländer hiervon fast immer ausgeschlossen. Schließlich ist zu sehen, dass auch bei einem formalen one country, one vote-Prinzip die ungleiche Machtverteilung in der WTO zwischen den mächtigen Handelsnationen und vielen kleinen – oft aufgrund von Verschuldung finanziell und wirtschaftlich abhängigen und somit ohnmächtigen – Staaten nicht aufgehoben werden würde.
- Die Entscheidungsfindung in der WTO leidet auch unter einem Transparenzdefizit. Dies zeigt sich besonders an dem vielgerühmten WTO-Streitschlichtungsverfahren. Anders als bei einem echten Gerichtsverfahren sind die Verhandlungen nicht öffentlich und können somit auch nicht von Medien, BeobachterInnen oder der interessierten Öffentlichkeit nachvollzogen werden. Dadurch bleibt auch der Einfluss wirtschaftlicher Interessen, wie z.B. multinationaler Unternehmen, auf die Verfahren weitgehend undurchsichtig. Ein transpa-renter und offener Informationsprozess zu WTO-relevanten Fragen ist auch auf nationalstaatlicher Ebene kaum gewährleistet. Die zuständigen Ministerien informieren ParlamentarierInnen und zivilgesellschaftliche Akteure (nicht nur in Deutschland) in der Regel kaum oder zumindest unvollständig und verspätet. Dies trägt nicht dazu bei, dass sich die demokratischen Gremien und andere gesellschaftlich wichtige Gruppen ausreichend und frühzeitig in einem umfassenderen Meinungsbildungsprozess verständigen können.
- Vertretungen zivilgesellschaftlicher Gruppen wie NGOs und Gewerkschaften werden in der WTO und in nationalen Wirtschaftsministerien nicht ernsthaft angehört, wohingegen der Einfluss der Wirtschaftslobby sehr groß ist. Zwar hat die WTO mehrere Treffen (high level meetings und Symposien) mit NGOs veranstaltet und zu den Ministertreffen auch NGOs als Beobachter akkreditiert und seit dem Scheitern des Multilateralen Investitionsabkom-mens (MAI) und nach der gescheiterten Ministerkonferenz von Seattle (1999) sind WTO und nationale Wirtschaftsministerien um einen Dialog mit zivilgesellschaftlichen Gruppen bemüht, jedoch geht es dabei bisher nur darum, im Sinne von Public Relations die öffentliche Akzeptanz der WTO zu verbessern. An ihrer Politik selbst hat sich dadurch aber nichts geändert. So spielt das Thema Demokratisierung in der Vorbereitung des Ministertreffens von Doha (Qatar) nahezu keine Rolle mehr.
II. Politische Forderungen
- Die Zukunft der WTO muss in eine übergreifende internationale demokratische Regulierungsstruktur eingebettet werden. Nur wenn die Asymmetrien im Vergleich zu anderen internationalen Organisationen ausgeglichen werden, kann das multilaterale Handelssystem sein Potential für eine nachhaltige Entwicklung entfalten. Damit stellt sich auch nicht mehr das Problem der “Ãœberfrachtung” der WTO mit – scheinbar oder tatsächlich – handelsfremden Themen. Solange eine internationale demokratische Regulierungsstruktur jedoch nicht in Sicht ist, ist jeder Kompetenzerweiterung der WTO mit großer Skepsis zu begegnen.
- Weitere Kompetenzausdehnungen, insbesondere wenn sie technische Standardisierungskompetenzen, wie z. B. im lebensmittelrechtlichen Bereich, enthalten, erhöhen das Demokratiedefizit der WTO. Derartige Verfahren sind zu begrenzen und durch institutionelle Arrangements, die einer parlamentarischen und zivilgesellschaftlichen Partizipation und Meinungsbildung offen stehen, zu ersetzen. Auch zukünftige Liberalisierungen, etwa im Dienstleistungssektor, sind daraufhin zu überprüfen, inwieweit sie dazu beitragen, dass le-gitime nationale Politiken und Ziele durch WTO-Regeln beeinträchtigt werden. Eine Aus-weitung der Tagesordnung einer neuen Handelsrunde auf Fragen wie Investitionen und Wettbewerb ist abzulehnen. Zwar besteht hierfür durchaus multilateraler Regelungsbedarf, jedoch ist die WTO unter den gegenwärtigen Bedingungen dafür völlig ungeeignet.
- Zur Verbesserung der demokratischen Kontrolle müssen sich die nationalen Parlamente verstärkt mit den WTO-Entscheidungen und Verhandlungen befassen. Die Erweiterung von Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten der Parlamente könnte dadurch erleichtert werden, dass nicht das ganze Parlament, sondern jeweils nur bestimmte Abgeordnete über die Verhandlungen oder eine konkrete Frage informiert werden müssen. Andererseits darf dies nicht dazu führen, dass die Regierung selber entscheidet, welche Abgeordneten sie infor-miert und welche nicht. Der Deutsche Bundestag sollte deshalb einen Unterausschuss des Wirtschaftsausschusses oder einen Sonderausschuss für internationale Handelsfragen konstituieren.
- Auch die Kommunikation und Vernetzung von Abgeordneten aus den nationalen Parlamen-ten muss gefördert werden. Auf EU-Ebene könnte ein interparlamentarischer Ausschuss zu WTO-Fragen aus Vertretern des EU-Parlamentes und der Parlamente der EU-Mitgliedsstaaten gebildet werden. Ob die Errichtung einer parlamentarischen Versammlung bei der WTO gegenwärtig sinnvoll ist, erscheint eher zweifelhaft. Es ist unwahrscheinlich, dass eine derartige Versammlung über echte parlamentarische Kompetenzen verfügen würde. Die konkreten Probleme der mangelnden Transparenz, Partizipation und Demokra-tie bei den fortlaufenden Sitzungen der WTO-Gremien würde sie nicht lösen. Grundsätzlich ist auch fraglich, ob gegenwärtige Vorstellungen von globaler Demokratie überhaupt Lö-sungsvorschläge für die genannten kurz- und mittelfristigen Probleme der WTO zu bieten haben. Auf keinen Fall dürfen Schritte in die Richtung einer parlamentarischen Versammlung einseitig von ParlamentarierInnen des Nordens ohne Beteiligung der Entwicklungsländer gegangen werden. Wichtiger als ein neues Gremium, dessen Aufgaben und Kompetenzen unklar sind, wäre der Austausch zwischen den nationalen Parlamenten in Nord und Süd.
- Für die Verbesserung der Partizipation von Entwicklungsländern in der WTO ist es wichtig, dass diese Länder über ihre Rechte in der WTO beraten und bei deren Wahrnehmung unterstützt werden. Die kürzlich vollzogene Einrichtung eines unabhängigen Rechtsbera-tungszentrums für Entwicklungsländer (Advisory Center) ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Die Bundesrepublik Deutschland sollte deshalb dem Abkommen über dieses Zentrum beitreten und es unterstützen.
- Insgesamt müssen die Beteiligungsmöglichkeiten der Entwicklungsländer durch sog. capacity building verbessert werden. Informelle Treffen sollten nur nach Vorankündigung und bei genauer Themenbegrenzung und transparenter Zusammensetzung stattfinden. Diese Treffen müssen allen interessierten Mitgliedstaaten oder regionalen Zusammenschlüssen offen stehen. Beschlüsse dürfen in informellen Verhandlungen nicht getroffen werden. Insbesondere sollten in der WTO keine kleinen Exekutivkomitees gebildet werden, an denen nur wenige Staaten beteiligt sind. Schließlich muss überlegt werden, wie die Zahl der Tref-fen reduziert oder sinnvoll gebündelt werden kann, damit auch kleine Delegationen an der Entscheidungsfindung in der WTO tatsächlich teilnehmen können. Transparenz und Demokratie müssen Vorrang vor Tempo und Effizienz haben.
- Zur Erhöhung der Transparenz der WTO-Entscheidungen sollten Nichtregierungsorganisa-tionen bei der WTO klare und transparente Beteiligungsrechte erhalten. Als ersten Schritt sollte die WTO die entsprechenden Einladungs- und Akkreditierungsverfahren des Wirt-schafts- und Sozialrates (ECOSOC) der Vereinten Nationen übernehmen. NGOs sollten auch Anhörungs- und Anwesenheitsrechte für die Verfahren der handelspolitischen Über-prüfung (Trade Policy Review) und das Streitschlichtungsverfahren erhalten. WTO-Dokumente sollten schneller veröffentlicht werden. Auch auf nationaler Ebene muss statt gelegentlicher und unverbindlicher Konsultationen ein allgemeiner Rechtsanspruch auf Zu-gang zu WTO-relevanten Informationen etabliert werden, damit sich alle gesellschaftlichen Gruppen und Individuen, deren Interessen durch die WTO berührt werden, an einem öffentlichen Meinungsbildungsprozess beteiligen können.