Einleitung
Wir sind derzeit mit vielfältigen Krisen konfrontiert: Der Wirtschafts-, Nahrungsmittel-, Energie- und Umweltkrise sowie einer allgemeineren Krise der Demokratie. Die EU hat zur Entstehung dieser Krisen einen beachtlichen Beitrag geleistet. Ihre Handels- und Investitionspolitik, die im Wesentlichen von der Logik der Wettbewerbsfähigkeit beherrscht wird, fördert Ungleichheit und Ausbeutung und beraubt Länder und Gemeinschaften der Möglichkeit, soziale, kulturelle und politische Menschenrechte durchzusetzen. Eine Regulierung der Wirtschaft durch öffentliche Institutionen im Interesse von Entwicklung, Umwelt und sozialer Gerechtigkeit wird auf diese Weise verhindert.
Ein wichtiger Grund dafür liegt in der Tatsache, dass die europäische Handels- und Investitionspolitik klar von den Einzelinteressen bestimmter Gruppen dominiert wird. Zum aktuellen Zeitpunkt gibt es keine wirkungsvolle Einbeziehung von Parlamentarier/innen, eine noch geringere Bürger/innenbeteiligung und keine signifikante öffentliche Debatte.
Zu häufig spiegeln die Grundlinien der Politik Unternehmensinteressen. Die europäische Handelspolitik muss grundlegend demokratisiert werden, im Rahmen einer allgemeinen Demokratisierung Europas.
Es gibt Alternativen zum aktuellen Handels- und Investitionsregime und diese finden weltweit immer mehr Unterstützung. Auf lokaler Ebene werden durch Bündnisse zwischen Herstellern und Konsument/innen biologische, umweltfreundliche Produkte und ethisch korrekte Handelspraktiken gefördert. Öffentliche Verwaltungen beziehen fair produzierte und nachhaltige Waren und Dienstleistungen. Fortschrittliche Regierungen im globalen Süden versuchen, Handels- und Investitionspolitiken durchzusetzen, die sich auf gegenseitige Unterstützung und den öffentlichen Bedarf statt auf Wettbewerb und Gewinnmaximierung gründen.
Dieser Text ist eine Einladung zur Diskussion und zur Durchsetzung von Veränderungen. Entworfen wird eine optimistische, fortschrittliche und gleichzeitig realistische Vision für eine alternative Handels- und Investitionspolitik in Europa. Das Dokument ist weder erschöpfend noch eine fertige Lösung, sondern Grundlage für eine breit angelegte Debatte für ein alternatives Handelsmandat in Europa. Angesichts der aktuellen, neuartigen globalen Krisen und der damit einhergehenden Bedrohung für unseren Planeten ist diese Debatte dringender denn je zuvor.
Teil I: Ein anderes Europa in der Welt
Eine alternative europäische Handels- und Investitionspolitik ist kein Selbstzweck. Sie ist Bestandteil eines alternativen europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells, eines anderen Europas in der Welt. Die Ziele eines solchen alternativen europäischen Modells sollen sein:
- die universellen und unteilbaren Menschenrechte zu schützen, einschließlich des Rechts auf angemessene Nahrung, Wasser, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit, Kleidung, Wohnung, Bildung, sozialen Schutz, Mobilität, Kultur, Freizeit und eine saubere Umwelt;
- menschenwürdige Arbeit zu garantieren, die es Menschen erlaubt, ein Leben in Würde mit angemessenem Einkommen und Arbeitsrechten zu führen;
- die Bedeutung von Reproduktions- und Erziehungsarbeit, Pflege, bürgerschaftlichem Engagement und informeller Arbeit und insbesondere die Rolle von Frauen in diesen Bereichen anzuerkennen und eine gerechte Umverteilung und Reorganisation aller Arten von Arbeit und die gleiche Entlohnung von Frauen und Männern zu garantieren;
- einen Übergang hin zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft sicherzustellen, die nicht auf übermäßigem Verbrauch, sondern auf einer sozial gerechten und ökologisch verträglichen Ressourcennutzung beruht, die ein menschenwürdiges Leben ohne Bedrohung der Existenz anderer Menschen, nachfolgender Generationen und der Flora und Fauna erlaubt;
- eine wirksame Demokratisierung auf allen Entscheidungsebenen zu erreichen;
- die strukturellen Machtverhältnisse zwischen Ländern, Regionen, Männern und Frauen, Klassen, Kasten und ethnischen Gruppen in Frage zu stellen und wirtschaftlich, politisch und sozial marginalisierten Gruppen zu stärken;
- Armut zu bekämpfen und neue, gerechte und solidarische Beziehungen zu Menschen in anderen Regionen aufzubauen. Dazu gehört die Anerkennung und Begleichung der historischen und aktuellen ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Schuld gegenüber benachteiligten Ländern und Gemeinschaften, die gerechte Verteilung der globalen Reichtümer, Ressourcen und Machtverhältnisse und die Achtung aller Menschenrechte, insbesondere der von Flüchtlingen und Migrant/innen unabhängig von ihrem formellen Status;
- den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Wohlstand weltweit zu verbessern, statt sich lediglich auf die Entwicklung des europäischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu konzentrieren.
Teil II: Eine gerechte Handels- und Investitionspolitik
Die europäische Handels- und Investitionspolitik muss sich an den oben skizzierten Zielen orientieren und Zusammenarbeit, Solidarität und eine nachhaltige Entwicklung fördern. Sie kann und muss ein Instrument zur gerechten Verteilung des weltweiten Reichtums sein und Menschen den Zugang zu Ressourcen, Waren und Dienstleistungen erlauben, die sie zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse benötigen.
Die europäische Handels- und Investitionspolitik soll:
- anerkennen, dass internationale Ãœbereinkommen und Verträge – zu Menschen- und Frauenrechten, Arbeit, Umwelt und Klima – Vorrang vor Handels- und Investitionssystemen haben;
- Ländern, Regionen und Gemeinden erlauben, die Herstellung, Verteilung und den Konsum von Waren und Dienstleistungen zu regulieren, statt sich lediglich auf die “unsichtbare Hand des Marktes” zu verlassen. Dies umfasst u. a. die Möglichkeit, die Produktion dem Bedarf der Menschen entsprechend anzukurbeln oder zurückzufahren und Preise zu stabilisieren, um Herstellungskosten vollständig zu decken sowie stabile und angemessene Einkommen für Hersteller und bezahlbare Preise für Verbraucher/innen zu gewährleisten. Systeme zur Angebotsregulierung, die diesen Zielen dienen, sollten durch Handels- und Investitionspolitiken nicht in Frage gestellt werden;
- die Regulierung von Einfuhren, Ausfuhren und Investitionen zur Verwirklichung sozialer, kultureller und politischer Menschenrechte erlauben und eigene Strategien für eine nachhaltige Entwicklung verfolgen. Beispielsweise dürfen Exportbeschränkungen, die eine demokratische Kontrolle von Bodenschätzen erlauben und einen Beitrag zum Allgemeinwohl leisten, durch Handels- und Investitionsverträge nicht verboten werden;
- zu einer am Menschen orientierten regionalen Integration beitragen, durch die sich Gemeinschaften gegenseitig unterstützen und für gemeinschaftliche Systeme zum gerechten Ressourcenmanagement einsetzen können, die die Umwelt achten und schützen – zum Beispiel durch den Aufbau regionaler Nahrungsmittelreserven oder gemeinsamer Strategien zur nachhaltigen Nutzung und Erhaltung von Wasser und Land. Regionen müssen die Möglichkeit haben, kleineren Wettbewerbern einen besseren Marktzugang zu gewähren, um lokal integrierte Märkte zu unterstützen;
- möglichst direkte Handelsbeziehungen zwischen Herstellern und Konsument/innen unterstützen. Europa muss den Grundsatz der Ernährungssouveränität achten und Ländern und Gemeinschaften erlauben, die lokale und regionale Ernährungswirtschaft gegenüber dem weltweiten Agrarhandel zu bevorzugen;
- garantieren, dass europäische Regierungen und Parlamente europäische Unternehmen für die sozialen und ökologischen Folgen ihrer Geschäftstätigkeit sowie der ihrer weltweiten Niederlassungen zur Verantwortung ziehen;
- verbindliche soziale und ökologische Regulierungen durchsetzen und volle Transparenz in globalen Wertschöpfungsketten schaffen. Ursprung, Zusammensetzung und Herstellungsbedingungen von Waren und Dienstleistungen müssen für den Einzelnen nachvollziehbar sein. Handelsregeln sollten Produkte und Dienstleistungen bevorzugen, die nach international anerkannten sozialen und umweltverträglichen Normen hergestellt sind, zum Beispiel durch Förderung fairer Beschaffungsverfahren seitens der öffentlichen Verwaltung; eine gerechte Einkommensverteilung in globalen Wertschöpfungsketten sicherstellen, um stabile und adäquate Einkommen für Hersteller und Arbeitnehmer/innen sowie erschwingliche Preise für Verbraucher/innen zu garantieren, zum Beispiel durch Eindämmung der Marktmacht großer Handelsunternehmen und Supermarktketten oder durch Förderung fairer Handelspartnerschaften;
- den Austausch und freien Zugang zu Wissen und Know-how fördern, zum Beispiel durch Open Source-Systeme, Saatgut-Austauschprogramme oder Patent-Pools und eine offene Lizenzpolitik zur Förderung von Innovation und dem Zugang zu Arzneimitteln. Patente auf Leben sind auszuschließen;
- verhindern, dass Finanzdienstleistungen dereguliert und öffentlicher Güter wie Wasser, Gesundheit und Bildung privatisiert und liberalisiert werden und stattdessen deren Qualität und den Zugang zu ihnen verbessern, zum Beispiel durch Partnerschaften zwischen öffentlichen Betrieben.
Teil III: Eine demokratische und verantwortliche Handels- und Investitionspolitik
Eine funktionierende europäische Handels- und Investitionspolitik ist nicht nur eine technokratische Fachfrage, die Expert/innen vorbehalten ist. Es ist eine politische Frage, die alle angeht. Deshalb sollte die europäische Handels- und Investitionspolitik einer öffentlichen Kontrolle unterzogen und auf ein Fundament aus demokratischen Strukturen gestellt werden, die eine wirksame Bürger/innenbeteiligung ermöglichen. Voraussetzungen dafür sind:
- die vollständige Transparenz des Entscheidungsprozesses einschließlich der Transparenz der Aktivitäten von Lobbyisten und der Veröffentlichung aller Gesetzesentwürfe und Verhandlungstexte;
- eine Schlüsselrolle der Parlamente von der lokalen bis hin zur europäischen Ebene. Die Handels- und Investitionsagenda sollte von Parlamentarier/innen festgelegt werden, die sich an allen Phasen des Politikprozesses und an Verhandlungen aktiv beteiligen, über die Inkraftsetzung von Verträgen entscheiden können und gegenüber der Öffentlichkeit rechenschaftspflichtig sind;
- verbindliche direktdemokratische Elemente und Verfahren zur Gewährleistung einer Beteiligung von Bürger/innen, zum Beispiel durch die Möglichkeit, im Rahmen des parlamentarischen Entscheidungsprozesses neue politische Initiativen einzubringen;
- die regelmäßige, obligatorische und umfassende Überprüfung und Bewertung von Handels- und Investitionspolitiken in Bezug auf ihre Kompatibilität mit Übereinkommen und Verträgen zu Menschen- und Frauenrechten, Arbeit, Umwelt und Klima sowie hinsichtlich ihres Beitrags zu sozialer Gerechtigkeit. Die Überprüfungen sollten vor und nach der Umsetzung von Politiken erfolgen und Einschätzungen von Vertreter/innen besonders marginalisierter und schutzbedürftiger Gruppen in Europa und anderswo berücksichtigen, wie zum Beispiel Arme in ländlichen und urbanen Räumen, Frauen, Indigene, Arbeitsmigrant/innen sowie Kleinbäuer/innen und kleine Betriebe. Die Überprüfungen sollten eine Verbesserung der Politiken und gegebenenfalls eine Neuverhandlung von Verträgen bewirken;
- eine substantielle Demokratisierung globaler Wertschöpfungsketten. Produktionsprozesse und Ressourcennutzung müssen öffentlich reguliert und kontrolliert und die Macht von Privatunternehmen begrenzt werden. Die Stärkung der Mitentscheidungsrechte von Arbeitnehmer/innen, von öffentlichen Dienstleistungen und von Genossenschaften könnten erste Schritte in diese Richtung sein;
- die Achtung demokratischer Entscheidungsprozesse in anderen Ländern und der Verzicht auf Unilateralismus und Machtpolitik, die derzeit die europäischen Handelsbeziehungen mit vielen Teilen der Welt charakterisieren;
- die Demokratisierung von internationalen Strukturen und Institutionen der Handels- und Investitionspolitik sowie die Ausweitung und Stärkung der Rolle der UN in Bezug auf diese Politikfelder.
Teil IV: Aktuelle Herausforderungen
Die aktuelle europäische Handels- und Investitionspolitik steht im Widerspruch zu den in diesem Dokument skizzierten Grundsätzen. Wir sind uns bewusst, dass der Übergang zu einer alternativen Politik Zeit benötigt, insbesondere, wenn demokratische Verfahren respektiert werden sollen. Doch angesichts der akuten Bedrohung durch die globalen Krisen muss mit der Richtungswechsel jetzt eingeleitet werden.
Erste umzusetzende Schritte sollten sein:
- die Öffnung der europäischen Handelspolitik zugunsten einer demokratischen Rechenschaftspflicht und Kontrolle durch Parlamentarier/innen und die Zivilgesellschaft;
- ein sofortiger Stopp der europäischen “Global Europe”-Strategie einschließlich eines Moratoriums für laufende Verhandlungen über Freihandelsabkommen mit Ländern und Regionen in Afrika, Asien, Amerika, im Pazifikraum und in Osteuropa sowie ein Stopp der Versuche der EU, in den laufenden WTO-Verhandlungen eine umfassende Öffnung der Märkte in den Entwicklungsländern durchzusetzen;
- umfassende Überprüfung der europäischen Handels- und Investitionspolitik einschließlich der Überprüfung bestehender und in Verhandlung befindlicher Abkommen, der Politik der Europäischen Investitionsbank (EIB) und der EU-Position in der WTO sowie in internationalen Finanzinstituten wie der Weltbank und dem IWF;
- die Ãœberarbeitung von Handels- und Investitionspolitiken, die einer Verwirklichung der im vorliegenden Dokument skizzierten Vision im Wege stehen.
Wir erkennen unsere Verantwortung an, eine grundlegende Neuausrichtung der europäischen Handels- und Investitionspolitik zu unterstützen und voranzutreiben. Wir müssen Bürger/innen, Parlamente auf nationaler und europäischer Ebene, unsere Regierungen und die europäischen Institutionen dazu bringen, sich tatkräftig zu engagieren. Die aktuellen Krisen, die durch die vorherrschenden europäischen Handels- und Investitionsinteressen verschärft werden, sowie die durch den Vertrag von Lissabon veränderten institutionellen Arrangements bieten eine gute Gelegenheit diesen Prozess zu starten. Wir laden alle Interessierten ein, dieses Ziel gemeinsam mit uns Wirklichkeit werden zu lassen!